Dömling, Wolfgang

Kunstpausen

Die Töne und die Stille

Verlag/Label: Rombach, Freiburg i. Br. u. a. 2014, 102 Seiten, 32 Euro
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2015/01 , Seite 95

Das ist wahrlich eine steile Karriere, die der bescheidenen Erscheinung der Pause in der Musik vergönnt war! Es ist der Weg vom Presque rien zu einem Ort der Weltbegegnung, der Selbsterfahrung und der Öffnung zum Transzendenten, die immer auch die letzten Dinge tangiert. So gesehen ist die Pause ein höchst willkommener Gegenstand für einen Emeritus, der, aus dem profunden Wissen des Musikhistorikers schöpfend, dem Substanziellen dieses Phänomens nachspürt und seinen Wandel im Kontext exemplarischer geschichtlicher Situationen vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert neu beleuchtet. Dass Wolfgang Dömling dafür die Form des Essays gewählt hat, entbindet ihn vom Zwang zur Vollständigkeit und eröffnet ihm zugleich die Möglichkeit einer ganz persönlichen Auseinandersetzung, die der Autor ebenso eindrucksvoll wie kurzweilig zu nutzen weiß. Statt einer stringenten historischen Darstellung erwartet den Leser ein Text in vier Kapiteln, die gleichsam durch den cantus firmus einer Lebensanalogie miteinander verbunden sind.
Das I. Kapitel («Motus vocum») thematisiert die Grundvorstellung von Musik im Sinne der mittelalterlichen Musiktheorie als processus und motus. Damit ist der Bogen weit genug gespannt, um das «runde Quadrat» (W.D.) von Schumanns Dreiertakt-Märschen, die «Herzrhythmusstörung» (W.D.) in Straussens Tod und Verklärung und die Sonderbedeutung von pausatio als «Tod» anzusprechen. Das II. Kapitel («Tonsprache») geht den Geschwisterbeziehungen von Musik und Sprache nach, distanziert sich stirnrunzelnd von der musikalischen Figurenlehre und deutet die Pausen im letzten Satz von Haydns Streichquartett Es-Dur op. 33 Nr. 2 als «kunsthafte Pausen, die nichts außer sich selbst bedeuten». Klingende Pausen und Fermaten sowie die Pausa generalis sind Gegenstand des III. Kapitels («Kunstpausen»), das mit Schuberts Lied Pause ein plausibles Belegbeispiel liefert. Dömlings Zweifel am ästhetischen Mehrwert des «quasi ewigen Orgel-Tinnitus» von John Cage und seine Kritik am «modischen religionslosen wie kunstlosen Event-Mystizismus» darf man als Absage an einen unreflektierten Umgang mit der Stille lesen, die spätestens seit Wagner als Folie einer «Kunst des tönenden Schweigens» nobilitiert ist.
«Löcher im Kontinuum», die Leere und der «Luxus des Schweigens» sind Gegenstand des IV. Kapitels («Das weiße Gedicht»), das der Faszination Stéphane Mallarmés vom Ideal des Nichts als dem Absoluten der Poesie gewidmet ist. Mit dem von Robert Rauschenberg initiierten «Selbsterfahrungsprozess ungeahnten Aus­maßes vor weißem Papier» (W.D.) nimmt Dömling zugleich dessen Kehrseite wahr: die Apotheose ei­ner «Kunst als Reinigung von der Kunst». Endlich also Kunstpause? Wenn da nicht der müde alte Morosus wäre, der am Ende von Richard Strauss’ Oper Die schweigsame Frau (und bei Dömling) das Ende der Mu­sik beschwört – allerdings auf höchst kunstvolle Weise: «Wie schön ist doch die Musik, aber wie schön erst, wenn sie vorbei ist.»

Peter Becker