Ockert, Matthias

Laminar Flow

Verlag/Label: Wergo, Edition Zeitgenössische Musik des Deutschen Musikrats, WER 65882
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/01 , Seite 91

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 4

1969, als Miles Davis Jazz mit Rock und Anthony Braxton mit Neuer Musik verband, war Matthias Ockert noch gar nicht geboren. Für ihn, der Komposition bei Wolfgang Rihm und Sandeep Bhagwati, aber auch Jazzgitarre bei Hans Koller und Bill Connors studiert hat, gibt es keine Genregrenzen. Seine Gitarre rockt abstrakt, in diffizilen, fein gewebten und doch rhythmischen Kompositionen. Melodielinien laufen flüssig quer durch alle Instrumentierungen. Dazu kommt durchgängig in allen Stücken der CD die Elektronik: eine ménage à trois mit wechselnden Akzenten.
So fegen im ersten, rein elektronischen Stück Stretto – Fluid Space aus Gitarrenklängen generierte, rasselnde Geräusche quer durch den virtuellen Raum. In Nachglut für großes Ensemble beeinflussen eingespielte Sam­ples Tempo und Tonhöhe. In Strombahnen – II. Open Circuits wiederum provozieren die Klänge der E-Gitarre elektronische Reaktionen. «Fluid», «Flow», «Flux», «Mobile»: solche Titelbegriffe unterstreichen, wie sehr dem Komponisten daran gelegen ist, das im Notensatz stillstehende Material in Bewegung zu versetzen.
Dass ihm dies durchweg gelingt, liegt auch an den hervorragenden Interpreten, unter anderem Ensemble Modern und aisthesis, die eine Agilität und Offenheit mitbringen, die weit über herkömmliches Vom-Blatt-Spiel hinausreichen. Einen weiteren Akzent setzt in jedem zweiten Werk Ockerts eigene E-Gitarre: einmal in Laminar Flow in einem Ensemble mit Flöte, Bassklarinette, Klavier, Violine und Violoncello; dann in Dans la Nuit im Duo mit Yannik Wirner am Klavier; und schließlich solistisch, im Dialog mit seinen elektronischen Echos. Ockert bevorzugt verzerrte, scharf angeschlagene Klänge und arbeitet mit Effektgeräten, wie sie im Rock und Jazz Verwendung finden, webt daraus allerdings komplexe Ton- und Geräuschlandschaften, rhythmische Geräuschattacken, immer dicht auf den Fersen der Gitarrenläufe.
In Continuous Open Flux kontrastiert andererseits ein feines elektronisches Sirren mit dem sonoren Kontrabass-Ton von Edison Ruiz und den Schlaginstrumenten, Glockenspielen und Xylofonen der Drumming Grupo de Percussão. Am Ende kommt in Primum Mobile Szenen mit drei Frauenstimmen überraschend ein madrigalhafter Tonfall ins Spiel. In sieben kurzen Szenen geben mal Saxofon, Kontrabass und Klavier, dann wieder Flöte, Trompete und Glockenklänge den Ton an. Einmal wird eine harmonische Kulisse von Vokal- und Flötenklängen von elektronischen Geräuschkaskaden abrupt fragmentiert und zerrieben. Nach einem Satz für Stimmen und Instrumente übernimmt im nächsten die Elektronik allein. Dann wieder tritt neben die Stimmen lediglich eine Violine, bevor die CD mit einem unbegleiteten dreistimmigen Vokalsatz endet, der im letzten Augenblick elektronisch verhallt. All dies klingt keinesfalls heterogen oder zusammengesetzt, sondern wie aus einem Guss: eine sehr farbige Auffächerung eines einzigen Kompositionswillens.

Dietrich Heißenbüttel