Nørgård, Per

Libra

Libra für Tenor, Gitarre, zwei gemischte Chöre und zwei Vibrafone / Rêves en pleine lumière für gemischten Chor / Kredsløb (Cycle) für zwölfstimmigen Chor

Verlag/Label: Dacapo 6.220622
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2013/01 , Seite 80

Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 5
Booklet: 4

Per Nørgård, dessen Lebenswerk in die Hunderte geht, nahm sich immer wieder Zeit für Chorstücke, die Ivan Hansen unter dem Titel Korbogen herausgab. Das Chorbuch sollte «den vielen skandinavischen Chören Gelegenheit geben, im Proben- und Konzertsaal nähere Bekanntschaft mit Nørgårds Musik zu schließen».
Das Vokalensemble des Dänischen Rundfunks – 18 professionelle «Vollzeitsänger» – nahm Nørgårds 80. Geburtstag zum Anlass, drei seiner weniger bekannten Chorwerke aufzunehmen. Wo­bei sich der schwedische Dirigent Fredrik Malmberg, der regelmäßig mit Det Svenske Radiokor und DR Vokalensemblet arbeitet, peinlich genau an dessen Klang- und Raumvorstellungen hielt. So verlangt der kantatenartige Zyk­lus Libra (1973) eine besondere Aufstellung der Chorgruppen, Solisten und Mikrofone.
Der Titel verweist auf das Sternbild Waage. Entsprechend «harmonisch ausbalanciert» klingt die Musik. Ihr Tonmaterial entstammt der Unendlichkeitsreihe, die Nørgård um 1960 entdeckte. Quasi im Einklang mit der von Benoît Mandelbrot entwickelten Fraktalgeometrie treten «selbstähnliche» Motive auf und verschwinden, kehren zurück, spiegeln sich in übergeordneten Tempi. Textgrundlage sind eine Strophe Rudolf Steiners über Liebe, Harmonie und Gleichgewicht («Die Welten erhalten Welten») und Verse aus den Psalmen Davids. Nørgård spricht von «kærlighedsmusik» (Musik der Liebe) für Tenorsolo, Gitarre, zwei Chöre – aufgeteilt in A cappella-Chor und Choralchor –, zwei Vibrafone und Bläser ad libitum.
Die zehn Sätze wechseln dergestalt, dass der beweglichen Gitarren-Einleitung ein ruhiger Choral folgt, dem Sologesang ein Chorsatz in viermal so langsamem Tempo … Im 9. und längsten Satz – Steiners Welten-Gedicht in Zeitlupe – kommen alle Mitwirkenden zum Zuge. Mit der die Choral-Apotheose «Lover ham, himlens himle» (Lobet ihn, ihr Himmel allenthalben) klingt das Werk hymnisch aus.
Der Chorkantate Rêves en pleine lumière (1989/2002), ursprünglich Teil eines (zurückgezogenen) Werks für Doppelchor, liegen Verse des Dichters Paul Éluard zugrunde. Fragmente aus Cours naturel, Mourir de ne pas mourir, À toute épreuve, L’amour la poésie und Poèmes pour la paix inspirierten Nørgård zu einer Serie klanglich aufgerauter, raumgreifender Psychogramme mit schroffen Intervallsprüngen und Registerwechseln, Lippenpfeifen, Beckenschlägen und klappernden Claves.
In Kredsløb (Kreislauf, 1977) für zwölfstimmigen Chor in fünf Sätzen auf Zeilen aus Ole Sarvigs Gedichten Året (Das Jahr) und I haven (Im Garten) entfaltet und kombiniert Nørgård vornehmlich drei Melodien: eine choralartige Hymne «Der er så stille på vor jord, se sneen» (Es ist so still auf unserer Erde, sieh den Schnee), eine absteigende, leicht tänzerische Strophe «En himmelkim på fuglefod» (Ein Himmelskeim auf Vogelfuß) und eine längere, gewundene Weise «Vi går i ringe i store skove» (Wir gehen in Ringen in großen Wäldern) – samt und sonders Tochtergestalten der Unendlichkeitsreihe. Ein Hoch auf die Gesangskultur an Danmarks Radio!

Lutz Lesle