Rihm, Wolfgang

Lieder

Verlag/Label: Dabringhaus und Grimm, MDG 613 1848-2
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/05 , Seite 82

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 4

Schier endlos scheint die Zahl der Lieder zu sein, die Wolfgang Rihm bis heute komponiert hat. Die vorliegende CD gibt einen Einblick in das Vokalschaffen des Komponisten, dessen Gesamtwerk mittlerweile auch Gefahr läuft, in der Unüberschaubarkeit zu versinken.
Interessant ist das Wölfli-Liederbuch, das Rihm 1980 komponierte. Als Inspiration fungierte der österreichische Künstler Adolf Wölfli, der unter Schizophrenie litt und von seinem 31. Lebensjahr bis zu seinem Tod in einer Nervenheilanstalt lebte. Dort entstand ein umfangreiches Werk an Bildern, Kompositionen und Gedichten, von denen Rihm insgesamt sieben vertonte. Darin tauchen surreale Szenen auf, Liebes­geständnisse und -verweigerungen und seltsame Tête-à-Têtes zwischen Menschen. Eine verzerrte Welt, die Rihm mit musikalischen Störungen in Szene setzt. Mit klassischem Kunstliedgut haben diese Stücke nichts zu tun. Sie erinnern an Kinderlieder, die immer wieder durch seltsame Klavierfiguren und gesangliche Wendungen durchbrochen werden. Am Ende schweigen Bassbariton und Klavier. Zwei Trommeln ertönen, klingen aus und werden wieder geschlagen. Eine rituelle Atmosphäre erfüllt den Raum, der vom Nachhall der Schläge erfasst wird.
Unter Schizophrenie litt auch Alexander alias Ernst Herbeck, der unter der Leitung seines Psychiaters Leo Navratil anfing Gedichte zu schreiben. Inhaltlich kreisen die Neuen Alexanderlieder unter anderem um Liebe, das Jagen und den Herbst. Die Lieder sind von einer melancholischen Atmosphäre gekennzeichnet, die von plötzlichen Klavier-Erup­tionen durchbrochen wird. Der Bariton Holger Falks navigiert in sanften Bewegungen durch das musikalische Material. Manchmal wirkt er wie Klebstoff. Dickflüssig und zäh schmiegt Falk seine Worte an das Klavier. Im dritten Abschnitt – «Ich mag euch alle nicht» – gibt es sogar etwas zu lachen. Man hört buchstäblich, wie es dem Bariton Freude bereitet, Textzeilen wie «Ihr seid mir zu deppert» zu singen und dabei das «t» im letzten Wort abzuheben und scharf zu betonen.
Natürlich darf auch der Philosoph Friedrich Nietzsche nicht fehlen, an dem sich Wolfgang Rihm bereits häufig abgearbeitet hat. Die Sechs Fragmente von Friedrich Nietzsche at­men eine musikalische Dramatik, die im­mer kurz vor dem Zerbersten zu sein scheint. Eine paradoxe Situation: Spannung und Entspannung scheinen zugleich vorzuherrschen.
In der Komposition wortlos geht es deutlich ruhiger zu: Sie besteht in zwei Stücken für stummen Gesang. Holger Falk muss nicht singen, dafür spielt Steffen Schleiermacher, der überhaupt einen sehr guten Job macht und es versteht, seinen Partner ausgewogen zu begleiten. wortlos ist so etwas wie ein Spiel. Angeblich schweigt Falk einen Text des Philosophen Peter Sloterdijk. Es entsteht eine Lücke. Womöglich auch ein Appell an die Zuhörer, die Musik mit eigenen Texten zu füllen oder einfach nur dem meditativen, von impressionistischen Klangfarben durchsetztem Klavierspiel zu lauschen.

Raphael Smarzoch