Odeh-Tamimi, Samir
Madjnun | Jabsurr | Ahinnu II | Shira Shir | Philaki | Garten der Erkenntnis | Gdadroja
Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 5
Samir Odeh-Tamimi wurde 1970 in dem Dorf Jaljuliya bei Tel Aviv geboren. Von 1984 bis 1989 trat er als Keyboarder und Schlagzeuger im Bereich der traditionellen arabischen Musik auf. Zuvor war der Versuch bei einem betagten russisch-jüdischen Pianisten das klassische europäische Repertoire zu erlernen fehlgeschlagen. Mit diesem Klavierunterricht sollte vorläufig auch die Idee scheitern, der westlichen Kunstmusik und damit dem Faszinosum des Fremden irgendwie nahe zu kommen. Dem Fremden sollte Odeh-Tamimi schließlich in Kiel nachspüren, zunächst bei einem Studium der Musikwissenschaft. Schließlich ergab sich das Kompositionsstudium bei Youngi Pagh-Paan. Für Odeh-Tamimi wurde die Begegnung mit ihr zum alles entscheidenden Wendepunkt.
Dass er nicht im Stil von Bach oder Beethoven komponieren wollte, wusste er schon während seines musikwissenschaftlichen Studiums. Bei der Klaus-Huber-Schülerin Younghi Pagh-Paan entdeckte er Schönberg und Xenakis, Scelsi und Lutoslawski. So ist die Musiksprache der europäischen Tradition doch wieder Teil seiner künstlerischen Identität, allerdings einer Identität, die bisweilen zu schnell ausschließlich als die eines politisch denkenden und arbeitenden Künstlers definiert wird.
Die vorliegende Werkschau, die wesentliche kompositorische Stationen Odeh-Tamimis aus den Jahren 2002 bis 2011 umfasst, reflektiert sehr wohl die politische Situation in der Heimat des Komponisten. Von politischer Ideologie jedoch keine Spur. Odeh-Tamimi komponiert den menschlichen Schmerz unter politischen Repressionen, keine Agitprop-Nummern. Vor allem jedoch komponiert er jenseits westlicher Avantgarde-Klischees des 20. und 21. Jahrhunderts. Seine musikalischen Mittel findet er unter anderem in der Musik des arabischen Kulturkreises, seine Texte in der alten arabischen Poesie und bei den Sufi-Mystikern. Allen Musiken Odeh-Tamimis gemeinsam ist ein hochexpressiver Verlauf, sind Klangräume von enormer rhythmisch-rhetorischer Energie, sind dynamische Extreme an der oberen Verlaufskante. Darüber hinaus verwendet Odeh-Tamimi so vorbehaltlos wie neugierig auf neue Ausdrucksqualitäten traditionelle arabische Instrumente in Klangwelten westlicher Provenienz wie auch umgekehrt.
Das Etikett «Weltmusik» indes gilt es zu vermeiden. Exemplarisch lässt sich das an «Gdadroja» für Kammerorchester und Sopran darstellen. Der Titel ist eine Synthese aus Bagdad und Troja, Orte, die in der Menschheitsgeschichte als Sinnbild für Krieg und Zerstörung stehen. In die schrundige, rhythmisch aufgerissene Klanglandschaft des Orchesterparts ist viermal eine textlose Schmerzensvokalise der drei Soprane in extremer Höhe und Lautstärke implantiert. Im Gestus ist das den alten Klagegesängen der arabischen Kulturen abgehört. Hier jedoch werden die im innersten noch tröstlichen Gesänge mit Hilfe der ungewöhnlichen Dynamik in eine körperlich schier schmerzliche Dimension katapultiert. So wie «Gdadroja» sind alle Musiken von Odeh-Tamimi politisch und zugleich als kompositorisches Statement für eine im besten Sinne körperhafte, körperliche Kunstmusik zu lesen.
Annette Eckerle