Neue Vocalsolisten Stuttgart

Madrigali

Werke von Johannes Schöllhorn, José M. Sánchez-Verdú, Andreas Dohmen und Clemens Gadenstätter

Verlag/Label: col legno WWE 1CD 20412
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/02 , Seite 84

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 5

Die altehrwürdige Gattung des Madrigals, berühmt geworden durch Komponisten wie Claudio Monteverdi und Carlo Gesualdo – hat sie auch für die Gegenwart noch Relevanz? Warum sollen nicht auch im 21. Jahrhundert noch mehrstimmige durchkomponierte weltliche Lieder mit lyrischem Gehalt geschrieben werden?
Zwar ist der innovative Impuls, mittels sogenannter Madrigalismen – charakteristische tonmalerische Effekte mit verstärktem Einsatz der Chromatik – die Wortausdeutung zu schärfen und das Ausdrucksspektrum zu erweitern, heute nicht mehr relevant. Im Gegenzug könnte aber die Rückbesinnung auf die Madrigalkunst, sofern sie nicht ins Anachronistische abgleitet, Möglichkeiten eröffnen, sich jenseits von Neue-Musik-Klischees in betörende klangsinn­liche Dimensionen vorzutasten. Von interpretatorischer Seite steht mit den Neuen Vocalsolisten Stuttgart jedenfalls ein «Klangkörper» bereit, der stimmliche Grenzen und Begrenzungen nicht als Hindernis wahrnimmt, sondern stets als Anreiz, sie zu erweitern und zu überschreiten. Da wundert es nicht, dass dieses Ensemble bereits eine umfangreiche Sammlung zeitgenössischer Madrigale angeregt hat, von denen die CD einen Ausschnitt bietet.
Mag die Virtuosität der Neuen Vocalsolisten so manchen Tonkünstler zu schnöden Manierismen oder zur Effekthascherei verführen, so sind die vorliegenden Madrigali diesbezüglich über jeden Verdacht erhaben. Und die Eigensinnigkeit der jeweiligen schöpferischen Ansätze verdichtet sich zur höchst intensiven und kontrastgeladenen Klangreise. In Johannes Schöllhorns Madrigali a Dio (2011) ist förmlich spürbar, wie dem Komponisten in der Auseinandersetzung mit der Gattung das Herz aufging. Er konzipierte seine fünf Madrigale als einfühlsamen Streifzug durch Ausdrucksextreme, die von den Interpreten großartig gemeistert werden: vom Schwelgen im (Wohl-)Klang über exaltierte Ausbrüche bis zum bizarren Sprechgesang. Mit der Vertonung der Worte genitore [Schöpfer] und fiore [Blume], die Schöllhorn zu poetischen Schlüsselbegriffen erhob, zog er zudem eine Linie zu den Madrigalismen als zentralem Element der altehrwürdigen Madrigalkunst.
José Maria Sánchez-Verdú bezieht sich in Scriptura Antiqua (2010–12) dagegen auf lateinische Grabinschriften. Mit subtiler Klanglichkeit und latentem Stöhnen und Seufzen lotet er verschiedene Stadien des Klagegesangs aus. Mit analytischer Beharrlichkeit taucht er in die düsteren Sphären des musikalischen und emotionalen Erlebens ein.
Wieder ganz anders stellt sich Andreas Dohmens infra (2008) dar, worin ein ebenso spannender wie steiniger Weg von babylonischer Sprachverwirrung bis zur «erlösenden» Auf­lösung in existenzielle Vereinzelung angetreten wird. Und Clemens Gadenstätter sinniert in Weh (2007) mit bohrender Eindringlichkeit über die Topoi Schmerz und Leid, die untrennbar mit der menschlichen Existenz verknüpft sind und deren Medium, im Verein mit Gestik und Mi­mik, die Stimme ist.

Egbert Hiller