Marcela Pavia – Max E. Keller

Verlag/Label: NEOS 11121
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2012/06 , Seite 90

Musikalische Wertung: 3
Technische Wertung: 4
Booklet: 3

Dieses Doppelporträt verbindet zwei Komponisten, die zunächst wenig Gemeinsames haben: Marcela Pavia (*1957 in Rosario) hat in Argentinien, später in Italien Komposition studiert und lebt heute in Mailand, der Schweizer Max E. Keller (*1947 in Aarau) profilierte sich neben dem Studium früh als improvisierender Musiker. Kennen gelernt haben sie sich bei einem kulturellen Austauschprojekt zwischen der Schweiz und Argentinien – und beide haben für das Trio Flair ein neues Werk geschrieben. Bei aller Unterschiedlichkeit sind auch Gemeinsamkeiten zu entdecken, etwa Bezüge zur folkloristischen Tradition der jeweiligen Länder. Hinzu kommt, dass Marcela Pavia sich zu einem Jugend-Faible für Rock à la Jethro Tull bekennt und dass bei Max E. Keller immer wieder Free-Jazz-Erfahrung durchscheint. Und beide stellen Tabus der Avantgarde in Frage: Der Puls, der Rhythmus – sie sind als verbindendes Element in diesem Doppelporträt mit Werken von 2001 bis 2009 spürbar.
Dennoch – die Unterschiede überwiegen. Marcela Pavia schreibt vorwiegend Kammermusik. Der Grundton ist rhythmisch, kraftvoll, reich an Klangfarben und außermusikalischen Konnotationen. Nayla für Flöte solo (1993), die einzige ältere Komposition der CD, rast mit der Solistin Lisa Cella wie ein irrlichterndes Presto-Furioso vorüber. Besetzungen mit Gitarre dominieren, etwa Amancay, benannt nach einer patagonischen Blume – hier fallen in der prägnanten Wiedergabe durch Matt Gould (Gitarre) und Gleb Kanasevich (Klarinette) neben Folklore-Anmutungen auch rockige, perkussive Passagen auf. The Banshee’s Keen für Gitarre solo bezieht sich auf eine irische Feen-Klage – sehr düster und mystisch musiziert von Patrik Kleemola. Per un addio für Sprecher und Klavier nach einem Gedicht von Gabriela Fantato erinnert an das Massaker faschistischer Truppen im April 1944 an Resistenza-Kämpfern in Cascina Benedicta (Piemont), ein Bezug, den das Booklet nicht erwähnt – Esther Flückiger erspürt am Piano einen wild aufbrausenden Schmerz, der sich in milden Klangfarben beruhigt.
Konzeptionell eher abstrakt geht Max E. Keller zu Werke. Das einzige Orchesterwerk der CD, Tenuto, battuto, fulminante, ein Live-Mitschnitt der Uraufführung 2003 mit dem Tonhalle Orchester Zürich unter David Zinman, exponiert drei gestische Elemente: den Halteton, den Schlag und den Blitz. Klänge, Rhythmen und Schlaglichter durchdringen sich – ein Drama mit Blechgedröhn und Trommeldonner. Während in Trio fluido ein Schweizer Ländlermotiv variiert wird, tauchen im Fagottquartett Cinque jazzige Phrasen auf. Sinnliche Wirkung entfalten die von Werner Bärtschi interpretierten Selbstgespräche für Klavier und Live-Elektronik – Echos, verzerrte Spiegelungen und blecherne Halleffekte evozieren eine geisterhafte Atmosphäre.
Fazit: Ein Doppelporträt zweier Komponisten, die sich eine gewisse Distanz zu gängigen Schreibweisen bewahrt haben und sich dennoch dezidiert zeitgenössisch artikulieren.

Otto Paul Burkhardt