Richter-Ibáñez, Christina

Mauricio Kagels Buenos Aires 1946–1957

Kultur­politik – Künstlernetzwerk – Kompositionen

Verlag/Label: Transcript, Bielefeld 2014, 342 Seiten
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/05 , Seite 93

Die Autorin – sie forscht in Tübingen und Stuttgart zum 20. Jahrhundert mit Schwerpunkt zeitgenös­sischer und lateinamerikanischer Musik – ist die Genauigkeit in persona. Was ihre Art zu forschen besonders auszeichnet: Sie untersucht streng materialistisch ihren historischen Gegenstand. Und den zu erfassen ist im Falle Kagels keineswegs einfach. Dessen Frühphase ist so gut wie nicht ausgewertet, zumindest sehr lückenhaft und vielfach fehlerhaft dargestellt worden. Des Komponisten eigene Aussagen bedurften durchweg der Überprüfung, denn sie differieren und widersprechen sich häufig. Unerbittlich geht die Autorin in diesem Punkt vor. Streng genommen vertraut sie keiner Aussage, wohl aber den Ergebnissen ihrer eigenen Recherchen.
Der zeitgeschichtliche Kontext, in dem der junge Kagel agiert, ist für ihre Erklärungen schlechthin entscheidend. Und darum lässt Christina Richter-Ibáñez die Kritik am Peronismus, der seinerzeit herrscht und Wandlungen unterworfen ist, ausgiebig sprechen. Darum sind ihr besondere Ausprägungen des hauptstädtischen Kulturlebens nicht gleichgültig, wohl aber Element der Entdeckung und Faktoren für den jungen Kagel, sich zu bilden und zu entwickeln. Darum behandelt sie Ideen und Initiativen seinerzeit nach vorn schauender Exilanten, Künstlergruppen und Konzereinrichtungen aufs Sorgfältigste und lässt deren jeweilige soziale und politische Problemlagen keinesfalls außen vor.
Kagels wichtigste Anreger und Lehrer stellt die Autorin in kleinen Porträts vor. Echte Vorbilder, Förderer und Freunde hätte er in Michael Gielen gesehen – der als Pianist in der Hauptstadt hilft, die Klavierwerke Schönbergs bekannt zu machen – und in Pierre Boulez. Boulez gastiert mit Ensembles während der 1950er Jahre zweimal in Buenos Aires und beeinflusst Kagel erheblich. Er sei derjenige gewesen, der ihn letztlich bewogen habe, 1956 Buenos Aires zu verlassen und nach Köln zu gehen.
Indes noch in Argentinien schließt sich Mauricio Kagel aller erreichbaren Modernität auf. Er interessiert sich für die Bauhausarchitektur. Der Tango eines Piazzolla ist ihm so wenig fremd wie die Dodekaphonie, die er in ersten Kammerstücken anwendet. Er schreibt Kritiken in Tageszeitungen wie La prensa und in Fachblättern der Moderne. Als die Compagnie Renaud-Barrault unter Pierre Boulez in der Stadt auftreten, prägt sich ihm dieses Erlebnis unverlierbar ein. Kagel ist sich im Übrigen nicht zu fein, als Komparse in Theater- und Filmproduktionen mitzuwirken.
Schließlich: Das Thema von Tod, Vernichtung, Zerstörung zieht Mauricio Kagel magisch an. Christina Richter-Ibáñez verweist in diesem Zusammenhang auf die Zitat-Technik ihres Protagonisten. Auch hier siedelt ein Aspekt des Künftigen beim jungen Kagel. Und so fügt sich Baustein um Baustein und charakterisiert Gedanken und praktische Gebilde, welche die Zukunft schon ins sich tragen.

Stefan Amzoll