Thielemann, Christian

Mein Leben mit Wagner

Unter Mitwirkung von Christine Lemke-Matwey

Verlag/Label: C. H. Beck, München 2012 | 320 Seiten
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2013/01 , Seite 48

«Komponieren» bedeutet im wörtlichen Sinne zwar zusammensetzen, der Komponist wird gemeinhin aber als Schöpfer eines Werks begriffen. Was meint Christian Thielemann genau, wenn er sich in der abschließenden Danksagung des vorliegenden Buchs nicht nur brav bei seinen Eltern bedankt, sondern auch bei der Musikwissenschaftlerin Christine Lemke-Matwey «für die erhellende Intensität der langen Gespräche und dafür, dass sie aus den oft verschlungenen Gesprächsfäden den Text dieses Buches komponiert hat»? Letzteres lässt aufhorchen, ja, regt die Spekulationen darüber an, wie weit Lemke-Matweys «Mitwirkung» eigentlich reichte. Fungierte die «Komponistin» nur als ordnende Hand oder ist der Text im Wesentlichen ihr eigener, wobei der prominente Dirigent in verkaufsfördernder Absicht auf den Schild gehoben wurde?
Wie dem auch sei, die Betrachtungen über «Wagners Kosmos» und das Innenleben der Bayreuther Festspiele fallen sehr detailreich aus. Was die Leser im Einzelnen davon haben, hängt in großem Maße von deren eigenem Verhältnis zu Wagners Musik ab. Glühende Verehrer werden das Buch verschlingen; wer vor allem die kritische Reflexion sucht, sollte sich im gewaltigen Fundus der – im Jubiläumsjahr 2013 gewiss noch einmal kräftig anwachsenden – Wagner-Literatur anderweitig bedienen.
Enthusiastisch schildert Thielemann seinen «Weg zu Wagner», den er als Komponist mit «integriertem Suchtfaktor» charakterisiert, dessen allzu menschliche Seiten samt Schwadronieren über «Zahngeschwüre» und «Klistiermethoden» er aber keinesfalls verklärt. «Je älter ich werde», so konstatiert Thielemann, «desto weniger interessieren mich die Biografien von Komponisten. Ich habe ja die Partituren, und da steht alles drin. Auch das Ambivalente, das Zwiespältige, gerade das.» Das leuchtet aus Sicht des Musikers ein und beugt zudem dem Vorwurf vor, sich nicht sehr eingehend mit den politisch-weltanschaulichen Dimensionen des Meisters beschäftigt zu haben. Viel lieber erzählt Thielemann vom Bayreuther Festspielhaus als «Tempel, Werkstatt und Wallfahrtsort» und vom langjährigen Festspielleiter Wolfgang Wagner als «liebevollem Patriarchen» – pathetische Anflüge, die den Mythos Bayreuth befeuern sollen, eingeschlossen: «Ich hatte immer das Gefühl, dass das Festspielhaus lebt. Es atmet, es horcht, es schaut dich an. Und es ist auf der Hut. Man muss hellwach sein, wenn man es betritt – und man muss sich ihm hingeben können. Solange man das tut, ist es treu.»
Nun, es fällt nicht schwer zu glauben, dass diese Zeilen von Thielemann selbst stammen. Spannend wird es indes, wenn er endlich zum Kern, zur Musik selbst, vordringt. So macht seine ebenso präzise wie anschauliche Analyse von Brangänes Nachtruf aus Tristan und Isolde Lust auf mehr. Ein Gutteil des Buches besteht denn auch aus Beschreibungen der Musikdramen Wagners, worin sich immer wieder Scharfsinniges und Erhellendes findet. Unterminiert wird die persönliche Sicht aber von ausführlichen Darstellungen im Stile eines Opernführers, die die Frage nach der «Komposition» des Textes erneut aufwerfen.

Egbert Hiller