Stiebler, Ernstalbrecht

Mit der Zeit

Verlag/Label: m=minimal mm-022CD
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2015/01 , Seite 91

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 4

Die Beharrlichkeit, mit der Ernstalbrecht Stiebler (*1934) seit den frühen 1960er Jahren an einer musikalischen Reduktion und damit auch an einem neuen Konzept musikalischer Wahrnehmung gearbeitet hat, bringt in diesen Jahrzehnten seines hohen Alters prachtvolle Ernte: Klänge, deren Konsistenz eine gan­ze Musik vorhält. Seine neue CD Mit der Zeit vereinigt vier Werke
für kleinste Besetzungen, die unterschiedlicher nicht sein könnten und die dennoch den Eindruck dessen erzeugen, was man einst «Konzeptalbum» oder schlichtweg Symphonie nannte, und eine überraschende und das Interesse stets wachhaltende Folgerichtigkeit besitzen. Stieblers Mu­sik ist bekanntermaßen langsam, langsam und reduktiv. Stiebler entblättert die Musik auf das Wesentliche: das Hören, besser: das Wahrnehmen. Klang ist das Gefährt, Zeit aber ist der Gegenstand.
Das erste Stück (fast möchte man sagen: der Prolog) Im Atem (2012) kommt ohne Töne aus. Hier hat Stiebler den Klang seines Atmens, alteriert durch Elektronik (umgesetzt von Bernd Leukert, der ihm im Hessischen Rundfunk als Redakteur für Neue Musik nachfolgte) und in derselben Zeilen-Methode strukturiert wie die meisten Werke seit den 1980ern, zur Trägerwelle von Zeitwahrnehmung gemacht. Stieblers Mi­nimalismus ist nicht repetitiv. Von Abschnitt zu Abschnitt vollziehen sich Wandlungen, mehr ahnbar als deutlich zu ermessen. In Im Atem erhält das Geräusch stets neue skulpturale Qualität, Filter fokussieren stets neue Anteile, und wiedererkennbare Elemente treten in immer neuer Position und Materialität vor. Ein Begriff, der für Stiebler von enormer Bedeutung ist, der Raum, erfährt hier eine virtuelle Realität, die über rei­ne Stereophonie hinauswächst. Der Raum ist in Stieblers Musik der innere Raum des Hörens, der geistigen Orientierung; seine Musik ist demzufolge nicht Darstellung, sondern Wohnort des wachen reinen Seins.
Schwebend, das Cello-Solo von 2009, füllt die ruhende Wachheit mit Klang aus langsam sich überkreuzenden Glissandi und haarsträubenden Doppelgriffen mit Flageoletts und den sich aus allem logisch und doch überraschend ergebenden Schwebungen. Agnieszka Dziubak ist die an Scelsi und anderen Befreiern des Klangs gestählte Virtuosin, die gleichwohl mit äußerster Geschmeidigkeit den kontrollierenden Eingriff umsetzt, den Stiebler für sich beansprucht. Nach dem in dieser Zusammensetzung wie ein Scherzo wirkenden Klavierstück Quart Solo von 1998, das mit Stiebler selbst am Klavier die ganze Ambivalenz der Quart zwischen Kon- und Dissonanz auslotet, folgt das titelgebende Hauptstück Mit der Zeit von 2012. Und unvermittelt begegnet man kom­plexesten Kristallstrukturen und verwinkeltsten Hör-Räumen zwischen den klangvollen mikrotonal ausgefeilten Tieftönen von Werner Dafel­deckers Kontrabass und der künstlichen Orgelwelt aus Stieblers Syn­thesizer. Die lebhafte Klarheit aller klanglichen Beziehungen erhebt die­se CD zu einem Ereignis an sich.

Matthias R. Entreß