Kunkel, Michael / Gartmann, Thomas (Hg.)

musik – buchstaben – musik

Kunst und Forschung an der Hochschule für Musik Basel

Verlag/Label: Pfau, Saarbrücken 2012, 350 Seiten, mit CD
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2013/04 , Seite 92

Man kann den vorliegenden Band gleichsam als den Rapport von einer nützlichen Allianz zwischen Kunst und Forschung lesen, die an der Hochschule für Musik Basel eindrucksvoll praktiziert wird. Sechs Komponisten und die Herausgeber als Gesprächspartner haben daran geschrieben, und sie haben zugleich ein engagiertes Plädoyer für ein solches Bündnis abgegeben. Dessen Intention sei es, so ist dem Vorwort zu entnehmen, «ausgehend von künstlerischem Tun zu künstlerischer Erfahrung und deren reflektierender Kontextualisierung zu führen». Einige der Texte lassen indes vermuten, dass auch die Musik selbst als forschende zu denken ist, dann nämlich, wenn sie, mit Novalis zu reden, Licht bringt «in der Seele wundersames Bergwerk».
In diesem Sinn führt der einleitende Text von Jakob Ullmann, «musik – buchstaben – musik», den Leser direkt ad fontes, nämlich zum Klangdenken der Gottsucher aus ferner Zeit von Abraham Aboulafia bis Roman Llull. Die Frage nach Gott klingt in Roland Mosers Studie zur Bewegung der Sprache Hölderlins in den Gesängen op. 35 von György Kurtág wieder an, während Georg Friedrich Haas, der «stärker auf die Emotion als auf die rationale Kontrolle» vertraut, im Gespräch mit Michael Kunkel auf den psychisch kranken Hölderlin abhebt und sich auf seiner neuerlichen «Suche nach einer Spiritualität in klarer Sprache» dem norwegischen Maler Lars Hertervig verbunden fühlt.
Michel Roth erforscht «Stilistische Assimilation und Montage [vor allem von Jazzelementen] in Maurice Ravels Oper L’Enfant et les Sortilèges», während Balz Trümpy auf die inspirierende Kraft der «archetypischen und zeitlosen Gregorianik» für seine Missa Ad te levavi verweist und im kompositorischen Schaffen von Luciano Berio «eine Mu­sik des ‹Gerade noch›, des ‹Nicht mehr› und des ‹Sowohl als auch›» wahrnimmt, Momente einer Offenheit, aus der – so Trümpy – Berios Werke ihre humane Bedeutung beziehen. Offenheit ist auch die Devise einer analytischen Annäherung an Luigi Nonos Orchesterkomposition A Carlo Scarpa von Leonardo Idrobo: ein Forschungsprojekt, bei dem es nicht um abschließende Feststellungen und Antworten geht, sondern um die Eröffnung eines neuen Fragehorizonts. Eine CD-Beilage mit der experimentellen Simulation möglicher Klang­realitäten des Werks ergänzt die Untersuchung.
Unterschiedliche Möglichkeiten heutiger musik-theatralischer Konzeption sind schließlich der Gegenstand von vier Gesprächen. Dabei geht es um Roland Mosers Briefszenen Rahel und Pauline (nach dem Briefwechsel zwischen Rahel Levin Varnhagen und Pauline Wiesel), um die Oper Melancholia (nach dem Roman Melancholie von Jon Fosse) von Georg Friedrich Haas, um Michel Roths Kammeroper Im Bau nach Kafka für Singstimme, Oboe, Violoncello und Klavier und um Jakob Ullmanns Komposition PRAHA: celetná – karlova – maiselova, ausgehend von Jorge Luis Borges’ Erzählung Das geheime Wunder. In Ullmanns Komposition wird die Musik selbst zur ars interrogandi, wenn sie wie hier die dem Text eingeschriebene Frage reflektiert. Es ist die Frage nach dem Sinn des Lebens. Forschung, die das zu ihrem Gegenstand macht, hat ihren Auftrag neu bestimmt. Dass sie sich darüber hinaus in so vorzüglich edierter Gestalt präsentiert, sollte ein gutes Omen sein.

Peter Becker