Kreidler, Johannes
Musik mit Musik
Texte 2005-2011
«Ein solides Handwerk nutzt nur da, wo es egal ist. Jede Komposition ist eine Weiterkomposition. Wer für Geige schreibt, schreibt ab.» Johannes Kreidler ist ein Provokateur. Die Berliner Philharmonie bezeichnet er als «Altersheim». Kompositionen für klassische Instrumente findet er nicht mehr zeitgemäß. Die Neue Musik bräuchte keinen weiteren Helmut Lachenmann, sondern dringend neue künstlerische Ansätze, frische Klänge, unverbrauchte Materialien. Behilflich dabei sind die digitalen Medien: Laptops, MP3-Player, Smartphones, Videoplattformen, das Internet und die Clouds ihnen könne man sich heutzutage nicht mehr entziehen. Diesen Zustand müsse auch die Musik reflektieren, glaubt der 1980 geborene Komponist, der seine Stücke ausschließlich am Computer schreibt, eine Arbeitsweise, die er «Musik mit Musik machen» nennt.
Kreidler arbeitet mit Klangdateien, mit so genannten Samples. Sein Buch Musik mit Musik ist ein Plädoyer für eine Ästhetik «des Aneignens und Veränderns». Für ihn gibt es keine neuen Klänge. Ihm kommt es vielmehr darauf an, wie man mit dem bestehenden Klangreservoir umgeht. Wenn man für ein Stück eine Orchesterpartitur brauche, so möge man sich einfach einer bestehenden Partitur bedienen, sie sampeln und in sein Stück einarbeiten. Im Umfeld der neuen Musik sorgt diese Arbeitsweise für Aufregung und entfachte kontroverse Dispute, die in Kreidlers vorhergehender Publikation Musik, Ästhetik, Digitalisierung ausführlich diskutiert worden sind. In der Popmusik hingegen ist die Verwendung von Samples schon längst etabliert. So hält sich beim Lesen von Musik mit Musik der Eindruck, es mit Grabenkämpfen zu tun zu haben, die anderswo schon längst überwunden worden sind.
Kreidler, der an der Musikhochschule Freiburg studierte, Meisterkurse bei Helmut Lachenmann besuchte und als Lehrer tätig war, versteht die Digitalisierung als Chance, Musik neu zu denken, als Möglichkeit, den konservativen Habitus der Akademien hinter sich zu lassen, aus dem vollständig sich zu lösen er allerdings auch Schwierigkeiten hat: «Eine Luftgeräuschanordnung auf der Kontrabassklarinette [kann] ebenso wie eine tonale Punkpassage Neue Musik sein», schreibt er. Und der Rezensent wundert sich. Kann Punk nicht einfach Punk sein und trotzdem im Kontext der neuen Musik auftreten? Einer der vielen Vorteile des Internet ist doch, dass es Hierarchisierungen abgeschafft hat. Erik Satie, die Sex Pistols, Madonna und Kaija Saariaho im World Wide Web sind sie nur wenige Mausklicks voneinander entfernt.
Auf über 200 Seiten in mehr als zwanzig Essays diskutiert Kreidler in Musik mit Musik seine Ideen. Einige der Aufsätze wurden bereits veröffentlicht. Das Spektrum reicht vom musikwissenschaftlichen Fachmagazin bis hin zum gewöhnlichen Blogeintrag. Kreidler versteht es, sehr unterhaltsam zu schreiben. Auffällig ist der Tonfall des Komponisten, in dem er seine Leser zum Umdenken auffordert. Sein Sendungsbewusstsein ist ansteckend. Komplexe Zusammenhänge illustriert er in klaren Worten und schreibt humorvoll und packend. Auch wenn manches nicht ganz stimmig erscheint man wird immer wieder zum Nachdenken angeregt. Und das ist sehr viel wert.
Raphael Smarzoch