Yoffe, Boris

Musikalischer Sinn

Verlag/Label: Wolke, Hofheim 2012 | 240 Seiten
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2013/01 , Seite 92

Boris Yoffe wurde 1968 in St. Petersburg geboren. Nach einem Zwischenstopp in Israel wohnt Yoffe, der sich als Komponist und Musiker versteht, mittlerweile in Karlsruhe. Die von ihm gewählten Berufsbezeichnungen können nun mit dem Begriff Essayist vervollständigt werden. In dem Buch Musikalischer Sinn versucht Yoffe mit der Vorstellung aufzuräumen, Musik sei nur eine akustische Entität, die keinen tieferen Sinn habe – ein Unterfangen, das historische Tradition hat und keineswegs neu ist. Musik lässt sich nicht einfach so greifen, sie hat keine verbalen Qualitäten und materiellen Charakteristika – Eigenschaften, die ihre Fixierung auf einen spezifischen Gehalt, eine klar zu definierende Bedeutung erschweren. So streift Yoffe in seinen sechs Essays und über zwanzig weiteren Beiträgen unterschied­liche Themenschwerpunkte. Seine musikalischen Vorlieben gehören zum klas­sischen Repertoire. Er diskutiert philosophische Fragestellungen rund um Mozart, Schubert, Beethoven, Brahms, Bruckner oder Schönberg.
In einem der Aufsätze denkt Yoffe über das musikalische Zitat nach. Es sei sinnvoll, ein Messinstrument zu entwickeln, um damit «den Grad der ‹Zitathaftigkeit› messen» zu können. Eine «bestimmte Menge Noten» sei dann ausschlaggebend, um die untersuchte Passage als Zitat zu qualifizieren. Der Autor und Komponist glaubt, dass Historiker und Biografen von diesem «wis­senschaftlichen Objektivismus» profitieren würden. Für Yoffe gibt es allerdings nicht bloß Zitate. Er unterscheidet zwischen «genauen» und «ungenauen» Zitaten, Anspielungen und Stilisierungen. Im weiteren Verlauf des Essays wird er noch genauer. Er erklärt, was «versteckte Zitate», «Ziel-Zitate» oder «Text-Zitate» sind. Seine Differenzierungen illustriert er mit zahlreichen Beispielen. Ein interessanter Beitrag.
In einem anderen Essay stellt Yoffe sich die Frage: «Zu welchem Zweck schreibt man ein Requiem?» Der Autor glaubt, dass das Requiem nur in den seltensten Fällen, etwa bei Johannes Ockeghem, eine «magische Aktion sei, die der Seele des Verstorbenen ihren Weg ins Jenseits erleichtern soll[e]». Die Begriffswahl irritiert: «Magie», «Seele» und «Jenseits» – Wörter, die in diesem Kontext durchaus einen esoterischen Charakter kommunizieren. Yoffe scheint das allerdings nicht zu stören. Andere Passagen seiner Aufsatz- und Notizensammlung stimmen einen ähn­lichen Tonfall an. Da schreibt er etwa: «Zum Ende des Barock hat die Musik eigentlich den Höhepunkt der Komplexität erreicht.» Eine fragwürdige These, die heutige Entwicklungen ignoriert.
Die Außenseite des Buchs liefert dafür eine Erklärung. So wenig Boris Yoffe musikalisch mit neuen Zeitströmungen zu identifizieren sei, so wenig sei er es gedanklich, steht da. Diese stimmige Darstellung legt gleichzeitig auch die Schwäche des Buchs offen. Beim Lesen der Texte stellt man sich die Frage, an wen sie eigentlich gerichtet sind. Man hat das Gefühl, als dringe man in einen philosophischen Raum ein, der mit dem musikalischen Zeitgeist des 21. Jahrhunderts nicht mehr viel zu tun hat.

Raphael Smarzoch