Bernhard Günther

Neue Musik und ihr Publikum zusammenbringen

Erfahrungen aus der Festivalpraxis

erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 1/2020 , Seite 23

Musikpädagogik, Publikumsentwicklung, Kommunikation, Dramaturgie, Kuratieren, Öffentlichkeitsarbeit usw. spielen in der zeitgenössischen Kunstmusik eine immer größere Rolle. Das mag überraschen, wenn man berücksichtigt, dass dieser kulturelle Bereich traditionell auf den Komponisten konzentriert und die Rolle des Publikums fast vollständig außer Acht lässt. Mit einem kurzen Blick auf verschiedene Entwicklungen fasst dieser Text verschiedene persönliche Erfahrungen und Lehren aus rund 15 Jahren Organisation von Musikfestivals zusammen: Betrachte das Publikum (differenziert)! Höre auf das Publikum! Berücksichtige: Lass dem Publikum Zeit zum Reden, Essen und Trinken! Nimm die Perspektive des Publikums ernst! Nimm nichts «Bekanntes» als selbstverständlich an! Unterschätze das Publikum nicht!

[…] Fest steht, dass der fragile Kunstbereich der Neuen Musik heute mit Blick auf den Wandel des Verhältnisses von KünstlerInnen, Kunst, Vermittlung, Medien und Publikum vor Herausforderungen steht, die neue Denk- und Handlungsweisen nahelegen. Es mag durchaus sein, dass Neue Musik und Publikum stellenweise heute noch fast genauso aufeinandertreffen wie vor zwei, drei Jahrzehnten, aber es darf entschlossen daran gezweifelt werden, dass das in dieser Form weitere zwei, drei Jahrzehnte später noch auf namhaftes Interesse stoßen wird. Vor diesem skizzierten Hintergrund berichte ich im Folgenden, lose geordnet und durchaus subjektiv, von ­einigen Erfahrungen der vergangenen 15 Jahre aus der Praxis eines Festivalveranstalters.
«Das Publikum wahrnehmen – und zwar differenziert
In der traditionellen Landschaft der Kulturinstitutionen trennt ein in den meisten Organigrammen relativ klar erkennbarer Graben die Welt der «Kunst» (im Blick der KuratorInnen, Programm- und FestivalmacherInnen etc.) von der der «Zielgruppen» (im Blick von Marketing, Presse, Kommunikation, Outreach, Vermittlungsteams etc.). «Community Management», «Customer Relation Management» & Co. gehören überwiegend der schnöden Domäne des Marketings an, in deren Untiefen künstlerische Planungsverantwortliche sich traditionell eher selten begeben und mit der sie zuweilen Banalisierung, Unverständnis und sonstige der Sphäre der Kunst unangemessene Verhaltensweisen verbinden.
Das mag alles seine Ursachen haben – aber das persönliche Gespür für das Publikum in seiner erstaunlichen, lehrreichen Vielfalt zu schärfen, kann ein wirklicher Augenöffner für Planungsverantwortliche sein. Erstens agieren Festivals und sonstige Veranstalter nicht selten innerhalb von lebendigen, durchaus auch streitbaren Szenen, deren AkteurInnen ja auch selbst zum Publikum gehören, was die strenge Trennung zwischen beiden Bereichen einigermaßen naiv erscheinen lässt. Beispielsweise ergab 2014 eine Publikumsbefragung der Universität Salzburg bei «Wien Modern», dass rund 19 Prozent der Befragten selbst Neue Musik spielen, 8 Prozent gaben an, selbst zu komponieren, und 7 Prozent gaben an, über Neue Musik zu schreiben. Zweitens können gerade Festivals, die unterschiedliche, wechselnde Spielstätten verbinden, ein komplexes Gefüge von Orten, Formaten, Programmen und BesucherInnen entwickeln (und zwar meist besser, als einzelne Häuser dies vermögen, auch wenn sich dort mit vielfältigen Abo-Strukturen und Programmschienen teilweise sehr unterschiedliche Sets von BesucherInnen ansprechen lassen). Das gelingt allerdings nur, wenn man sich keinen interessensgetriebenen Illusionen darüber hingibt, dass beispielsweise das junge Publikum in der «coolen postindustriellen Location» am Stadtrand vor lauter Begeisterung wenig später auch noch den Weg in den traditionsreichen Hochkulturort im Zentrum finden wird. «Das» Publikum ist erfahrungsgemäß vielfältiger, komplexer zusammengesetzt, spannender und eigenwilliger, als es zweckorientiertes Denken aus Blickwinkeln wie Marketing, Outreach und Vermittlung gern vereinfachend annimmt. Es lohnt sich ausnahmslos, genauer hinzuschauen.
Dem Publikum zuhören
«Zuhören können ist eine der besten Eigen­schaften eines Dramaturgen.» Dieser Satz von Klaus-Peter Kehr gilt keineswegs nur für den Umgang mit KünstlerInnen und TeamkollegInnen, sondern ebenso für jenen mit dem Publikum, welcher (so eine weitere Formulierung des 1940 geborenen Dramaturgen, Intendanten und Theaterwissenschaftlers) «immer nur liebevoll» sein kann. Zum fünfjährigen Bestehen der Philharmonie Luxembourg 2010 habe ich als Chefdramaturg des Hauses unter dem Titel Sprechstunde eine «interaktive Performance für Zuhörer» angeboten: In kurzen Vier-Augen-Gesprächen wurde ausgehend von ein paar Standardfragen geplaudert über Hörvorlieben, über die bevorzugten Arten, den jeweiligen Tagesbedarf an Musik zu decken, über musikalische Unverträglichkeiten und über die genauen Gründe, warum man überhaupt in die Philharmonie geht. 2011 schloss sich im Rahmen des Festivals «rainy days» eine erweiterte Version dieser Sprechstunde mit den MusikerInnen des ensemble recherche und einer «Gemeinschaftspraxis» mehrerer KomponistInnen an. Das Wesentliche an diesen (und vielen weiteren informellen) Gesprächen war für mich eine Lektion in Demut: Die Hintergründe, Motive, Beweggründe, Interessen und Überlegungen der einzelnen Menschen im Publikum waren weitaus vielfältiger, als der Dramaturg sich das im Vorfeld aufgrund seines bloßen, einzelnen Wissens über die «künstlerischen Inhalte» zusammengereimt hatte. Wenn 100 Menschen ins Konzert gegangen sind, mag es ganz genau so viele verschiedene Gründe dafür gegeben haben. Diese Erkenntnis zum Anlass für Bescheidenheit und Offenheit zu nehmen, hilft beim Umgang mit dem Publikum ganz erheblich.
Dem Publikum Zeit lassen – auch zum Reden, Essen und Trinken
«Kultur kann nur im Dialog zwischen den Produzierenden und den Rezipierenden funktionieren. Die Entwicklung der Medien und der Infrastruktur geht immer stärker in die gegenteilige Richtung, wird immer stärker durchkommerzialisiert.» Werner Korn, ein idealistischer Veranstalter alter Schule, der einen gut frequentierten Szenetreffpunkt mit Werkstattcharakter in einem Wiener Außenbezirk betreibt, wäre nie auf die Idee gekommen, seine kleine Spielstätte für neue und improvisierte Musik ohne zentrale Bar und ohne reichlich Zeit für Austausch zwischen allen Anwesenden zu betreiben. Auch in Basel ist die «Bar du Nord» wesentlicher Teil des Erfolgs des «Gare du Nord – Bahnhof für Neue Musik». Eine junge Praktikantin, die nach Erfahrungen beim Filmfestival Viennale 2017 zum Musikfestival «Wien Modern» kam, vermisste das allnächtlich bespielte Festivalzentrum, das After-Show-Party-Programm und die Einladungen zu VIP-Büffets und meinte schließlich, in der Neuen Musik «fühlt es sich irgendwie gar nicht so sehr wie ein Festival an». Ein Verständnis von Dramaturgie und Programmgestaltung, das die «weichen Faktoren» der sozialen Kohäsion, durchaus auch der zwischen Publikum und KünstlerInnen, im Veranstaltungs- und Festivalkontext mit be­denkt, ist (nicht zuletzt aufgrund der ökonomischen Bedingungen) in der Neuen Musik eher die Ausnahme. Gelegenheit zum informellen Austausch zu haben, ist aber eine Notwendigkeit. Bei der Steuerung von Faktoren wie Programm, Format, Zeitplanung und Ortswahl, Rahmen- und Begleitveranstaltungen sind die Auswirkungen auf den Grad der «Kommunikativität» des Ganzen mit zu bedenken. Nichts gegen didaktische, wissensbasierte Vermittlungsangebote, aber wer soziale, kommunikative und letztlich auch körperliche Bedürfnisse des Publikums unterschätzt, tut der Neuen Musik keinen Gefallen.
Den Blickwinkel des Publikums ernst nehmen
Auf der Suche nach einem verständnisvollen Publikum mit einer der jeweiligen Musik angemessenen Erwartungshaltung gilt: Man kann nie klar genug sein. Eine Komponistin hat möglicherweise Monate oder sogar Jahre des Nachdenkens und der Arbeit mit einem bestimmten Werk verbracht, die InterpretInnen Wochen des Übens und Probens, die Veranstaltenden haben sich hoffentlich zumindest einige Stunden oder Tage lang damit auseinandergesetzt. Das Publikum eines neuen Werks verbringt nur in Ausnahmefällen mehr Zeit damit als die Dauer der Aufführung. Diese enorme Differenz genügt, um der auf künstlerischer Seite häufigen Annahme, das Werk werde sich schon von selbst erschließen, mit Misstrauen zu begegnen.
Ein Fallbeispiel: 2011 ließ ich mich als Auftraggeber und Veranstalter der Uraufführung des Orchesterstücks “Wachstum Massenmord” des Komponisten Peter Ablinger überreden, dass das Publikum das erstaunliche Bauprinzip dieser Musik schon bemerken werde – oder auch nicht, was dann halt eben so sei. Aufnahmen der gesprochenen beiden Worte des Titels werden nach einer Frequenzanalyse und Rasterung in Orches­terstimmen umgewandelt, das Orchester «spricht» also mit seinem Spiel Worte. Im Publikumsgespräch vor der Aufführung im Festival «rainy days» wollte der Komponist ausdrücklich keine Hinweise dazu geben, was der Dramaturg widerstrebend akzeptierte. Tatsächlich wurde die Sprache hinter den rätselhaften Orchesterklängen trotz zeitlich präzise koordinierter Textprojektion nur von den allerwenigsten Menschen im Publikum erkannt. Seither trete ich in ähnlichen Situationen gegenüber den KünstlerInnen viel strenger als Anwalt des Publikums auf und unternehme im Zweifelsfall lieber zu viel als zu wenig, um dem Publikum eine Chance zu geben, Ideen hinter bestimmten Werken oder spannende Details zu erkennen. Dramaturgie heißt nicht zuletzt, mit den Ohren des Publikums hören zu lernen.
Nichts als allgemein bekannt ­voraussetzen
Im Eröffnungsjahr der Philharmonie Luxembourg 2005 setzte ich unter anderem das Konzert «Helmut Lachenmann zum 70. Geburtstag» auf das Programm des aller­ersten dortigen Neue-Musik-Abo­zyklus. Aus Wien kommend, als jahrelanger Stammgast bei einschlägigen Festivals Neuer Musik in Wien, Donaueschingen und Witten, und ausgestattet mit einigem Insiderwissen, vermeinte ich, ein spürbar attraktives Konzert im Angebot zu haben: Das für seinen hohen interpretatorischen Standard bekannte Freiburger ensemble recherche spielte zum letzten Mal mit seinem Stamm-Cellisten Lucas Fels, dessen bevorstehender Wechsel zum legendären Londoner Arditti Quartet auf den Szenefestivals für einigen Gesprächsstoff gesorgt hatte. Mit bekannten Werken von Arnold Schönberg, Wolfgang Rihm und dem prominenten Geburtstagskind hatte ich mir Gedanken darüber gemacht, ob ich schon fast zu sehr «auf Nummer Sicher» gegangen sei – die Scheu vor vermeintlichem «Populismus» existierte unter Programmverantwortlichen längst, bevor sie zum Zeitschriftenthema der Neuen Musik wurde.
Wenige Tage vor dem Konzert waren kaum zwei Dutzend Karten verkauft, was selbst für den kleinsten Saal der Philharmonie, in deren Anfangsmonaten nahezu jedes Orchesterkonzert im großen Saal mit 1500 Plätzen sofort ausverkauft war, eine ernüchternde Erfahrung darstellte – für die ich heute allerdings sehr dankbar bin. Ich bin seither mit dem Vertrauen auf die Wirkungsmacht «großer Namen und wichtiger Werke» im Bereich der Neuen Musik deutlich zurückhaltender geworden und setze beispielsweise auch auf dramaturgische Zugänge über Themen, die im Zweifelsfall auch ohne szenespezifisches Vorwissen funktionieren. In diesem Kontext wird stets auch die «Lesbarkeit» und «Usability» der gesamten Kommunikation im Blick auf Versteh- und Benutzbarkeit für Einsteiger kritisch geprüft. «Große KomponistInnen und he­rausragende Werke» finden selbstverständlich nach wie vor den Weg in von mir geplante Programme – aber seit ich mich nicht mehr auf ihre Bekanntheit verlasse, findet das Publikum einfacher den Weg in die Konzerte.
Das Publikum nicht unterschätzen
Zu den Lektionen, die ich aus der jüngeren Geschichte von Festivals wie «Wien Modern» oder den «Wiener Festwochen» lernen durfte, gehört, dass kulturpolitisch gewollte Maßnahmen zur «Verjüngung des Publikums» durch «niederschwellige Angebote», «weniger elitäre Programme», «coole, alternative Spielstätten» und eine «unkomplizierte, junge, eher popkulturelle», «nicht so bürgerliche» Orientierung durchaus krass gegenteilige Auswirkungen haben können. In den durch diese in bester politischer Absicht entstandene Haltung geprägten Jahren sanken bei beiden Festivals die Kartenverkaufszahlen empfindlich, nicht zuletzt gerade auch im Bereich der Jugendlichen und Studierenden.
Was genau dann 2016 auch immer zu einem sprunghaften Besuchsanstieg bei «Wien Modern» geführt haben mag – die Wendung zu einem offensiv generationsübergreifenden Programm mit Ecken, Kanten und Widersprüchen, durchaus rätselhaften, komplizierten, herausfordernden Werken und einer Thematik, die ihre Düsterkeit nicht zu kaschieren suchte, hat mit Sicherheit dazu beigetragen. Selbstverständlich gilt es, nach Jahrzehnten der Vernachlässigung in der Neuen Musik, an «Publikums-Nachwuchsarbeit» zu denken. Allerdings ist es riskant, darüber ein über Jahrzehnte hinweg gewachsenes Publikum aus dem Blick zu verlieren. Doch welche Altersgruppen und Teile der Gesellschaft man auch immer erreichen möchte, eins gilt ganz bestimmt: Das Publikum, das an Neuer Musik Vergnügen findet – und das gibt es, nicht zu knapp –, sollte man keinesfalls unterschätzen oder unterfordern.
Den Rahmen wählen oder bauen – passend für Musik und Publikum
Die grundlegenden veranstalterischen Fragen, wie, wann und wo eine bestimmte Musik welchem Publikum präsentiert werden sollte, werden mit der wachsenden Formen- und Formatvielfalt der Neuen Musik beständig komplexer. Abseits der Standardsituation einer frontalen Konzertveranstaltung mit vereinbarter Beginnzeit in einem speziell dafür konzipierten Saal sowie der sich im vertrauten Rahmen bewegenden Faktoren Dauer, Dichte, Lautstärke, Komplexität, Beleuchtung, Temperatur, Feuchtigkeit, Uhrzeit, Bestuhlung etc. eröffnen sich zusehends mehr Möglichkeiten. Zunächst einmal gilt auch für den Rahmen die veranstalterische Erfahrung, dass die Suche nach dem Vertrauten statistisch stärker verbreitet ist als die Neugier – je ungewöhnlicher Format oder Ort erscheinen, umso mehr Menschen könnten sich unter dem Strich abgeschreckt fühlen und der Veranstaltung fernbleiben, was gegebenenfalls rechtzeitig als Herausforderung für die Kommunikation zu begreifen ist.
Eine weitere Herausforderung bilden die Produktionsbedingungen in Räumen abseits klassischer Konzertsäle. Wohl die meisten Festivalteams im Bereich der Neuen Musik können ein Lied davon singen, ganz besonders bei Festivals wie «ZeitRäume Basel – Biennale für neue Musik und Architektur», die nahezu komplett außerhalb der Konzertsäle entwickelt werden.
Die wesentliche Herausforderung ergibt sich aber oft aus den Werken selbst; weniger im Sinne schwerer inhaltlicher Verständlichkeit oder Zugänglichkeit, sondern in der Schwierigkeit, das Potenzial einer ungewöhnlichen künstlerischen Idee perfekt produziert im richtigen Timing auf die richtige Bühne zu bringen. […] Zu den kuratorischen und dramaturgischen Überlegungen in diesem Zusammenhang gehört der irritierende Gedanke, dass für die Ermöglichung der Begegnung mancher Werke der Neuen Musik mit ihrem Publikum tatsächlich zuweilen eine ähnliche Sorgfalt vonnöten zu sein scheint wie vielleicht ansonsten beim Entwerfen eines Raubkatzengeheges: Sowohl die Musik als auch das Publikum brauchen bestimmte Bedingungen, um zu gedeihen. Beide brauchen Spielraum, Vertrauen und Freiheit. Beide sind nicht unbedingt für das Zusammenleben miteinander in nächster Nähe bestimmt, bergen gewisse Gefahren füreinander und brauchen zu einem gewissen Grad auch Schutz voreinander. Aber die Begegnung der beiden miteinander ist unter idealen Bedingungen eine Inspiration, die jeder Mühe und Sorgfalt im Hintergrund wert ist.
(Auszüge aus dem Text von Bernhard Günther: Lesen Sie den kompletten Beitrag im Heft.)