Notturni

Verlag/Label: col legno WWE 1CD 20406
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2013/02 , Seite 84

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 3

Als Marino Formenti vor ungefähr zehn Jahren ein erstes Soloprogramm bei col legno veröffentlichte («nothing is real», WWE 1CD 20223), schickte er sich an, einer der interessantesten Pianisten der Gegenwart zu werden. Inzwischen wird der Italiener als «Glenn Gould» des 21. Jahrhunderts gehandelt. Das ist natürlich ein Unsinn. Mindestens zwei Dinge haben die Ausnahmemusiker aber doch gemeinsam: erstens eine begnadete Unabhängigkeit von technischen Limits; zweitens die Angewohnheit, auch physisch komplett in die Musik abzutauchen und dies durch stimmliche «Begleitung» kundzutun. Doch weit mehr als der Virtuosen-Mythos tritt in «Notturni» mit bemerkenswerter Konsequenz auf den Plan, eine einstündige Essenz von vier gleichnamigen Klavierabenden, die Formenti 2011 im Rahmen von Wien Modern gab.
Man braucht kaum zu erwähnen, dass Brian Ferneyhough in «Lemma-Icon-Epigram» (1981) so viele Noten, Gesten, Figuren, Akkorde wie irgend möglich ins mehrdimensionale Geschehen wirft, was halsbrecherische technische Gratwanderungen provoziert. Formenti bewältigt das eigentlich Unmögliche noch circa drei Minuten schneller als allgemein üblich! Das Bemerkenswerte daran ist jedoch, dass dies keine Einbußen an Detailtreue mit sich bringt. Auch bei rasenden Tempi wird das Ephemere und Augenblickshafte dieser Musik wunderbar pointiert herausmodelliert. Und es ist bemerkenswert mitanzuhören, wie Ferneyhoughs gefürchtete Komplexität im Schlussteil eine fast improvisatorische Energie freisetzt.
Ein Komponist, der ebenfalls sehr polyphon denkt und gern mit verborgenen Strukturen arbeitet, ist George Benjamin. Seine «Shadowlines, six canonic preludes» (2001) lassen ihre strukturellen Zusammenhänge nur andeutungsweise unter der klanglichen Oberfläche erkennen, die mal lyrisch, mal verspielt, mal düster vergrübelt daherkommt. Formenti findet immer neue Töne in diesem vielgestaltigen Zyklus.
Cages «One» (1987) hatte der Pianist bereits in der ersten col legno-Veröffentlichung eingespielt; nun braucht er einiges weniger an Zeit, um die stillen Räume von Cages erstem «Number Piece» auszuloten, ohne dass er den solitären Klanginseln das Wasser abgraben würde. Eine ganz ähnliche Dis­position zeigt Karlheinz Stockhausens «3. Stunde – Natürliche Dauern Nr. 5» aus «Klang – die 24 Stunden des Tages» (2005/06). Wie Stockhausen hier in der Variation weniger Akkordfigurationen dem Entstehen und Verlöschen «natürlicher Dauern» nachhorcht, verrät erstaunliche Nähe zur Klaviermusik der New York School.
Geistiges Zentrum von Formentis Wiener Programm war jedoch Friedrich Cerha. Er schrieb 2010 sein erstes Solo-Klavierstück nach zwanzig Jahren: «Für Marino (gestörte Meditation)». Der Name ist wörtlich zu nehmen. Cerha lieferte eine Musik von erlesener Reduktion, völlig aus Raum und Zeit
gefallen, die von gelegentlichen Ausbrüchen beunruhigt wird und durch ihre Konzentriertheit und Zärtlichkeit beeindruckt. Eine Auswahl aus Cerhas «Slowakischen Erinnerungen aus der Kindheit» (1956/1989) rundet diese «Notturni» auf melancholische, aber keineswegs nostalgische Weise ab: folkloristisch eingefärbte Miniaturen, deren traurige Weisen dissonant veredelt wurden.

Dirk Wieschollek