Octandre

Werke von Edgar Varèse, Daniel Luzuriaga, Thomas Bruttger, Coriún Aharonián, Mariano Etkin, Graciela Paraskevaidis und Rolf Riehm

Verlag/Label: Ars Musici 232211
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2012/01 , Seite 83

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 5

Dass mit Edgar Varèses «Octandre» (1923) ein Prototyp moderner Ensemblekomposition am Anfang dieser Produktion steht, ist kein Zufall. Schließlich besteht das Ensemble Aventure im Kern aus Bläsern, Kontrabass und Schlagzeug und hat bereits zahlreiche Komposi­tionsaufträge zur Wiederbelebung der «Octandre»-Besetzung vergeben. Eine weitere Passion der Freiburger Formation, die dieser Zusammenstellung ihren besonderen Reiz verleiht, ist ihre Affinität zur neuen Musik Lateinamerikas und die Förderung der dortigen Musikszene. Komponisten aus Uruguay, Ecuador und Argentinien stehen also besonders im Blickpunkt und überraschen mit durchaus abgründigen Reflexionen ihrer kulturellen Identität.
Diego Luzuriagas «Grave Bossa» (1995) könnte auch «Schwer wie ein Kondukt» überschrieben sein, so trübsinnig und rhythmisch gar nicht aufgeräumt geht es in dieser melancholischen Meditation einer Brasilien-Reise zu, die Elemente des Bossa Nova in einer Art Extrem-Zeitlupe bis zur Unkenntlichkeit verformt. Der aus Montevideo stammende Komponist Coriún Aharonián bezieht sich noch konkreter auf Aspekte lateinamerikanischer Popularkultur und lässt in «Gente» (1990) in extremer Reduziertheit und Abstraktion kleine musikalische Gesten repetieren, «um sie aus dem Mülleimer der Vorurteile zurückzugewinnen». Eine besonders düstere Reflexion eigener Traditionen ist dem Argentinier Mariano Etkin zu verdanken. Sein Abgesang «Mambo» (1992) fällt allerdings trotz eindrucksvoller Details streckenweise doch ziemlich auseinander, als wäre das ein schlecht gemachter Feldman. Weitaus eindrucksvoller verlaufen da die «sendas» («Pfade») der in Argentinien aufgewachsenen, derzeit in Uruguay lehrenden Griechin Graciela Paraskevaidis. Mit Versen von Junan Gelman im Gepäck verfangen sich die vier Stücke regelmäßig im Dickicht obsessiver Wiederholungen eines beschränkten Ausgangsmaterials.
Doch auch in heimischen Gefilden gilt es hier einiges zu entdecken: zum Beispiel den an der Essener Folkwanghochschule beschäftigten Thomas Bruttger. Sein «Monolith» (1991) ist ein farblich sehr schön gearbeitetes, atmosphärisch dichtes Stück, wo ein statischer Zentralklang in prismatische Brechungen aufgelöst wird und trotz aller feldmanesken Statik (und Klangfarbe!) ein ständiger Wechsel der Aggregatzustände stattfindet. Statt öliger Flächen in im­mer neuen Mischungsverhältnissen pro­duziert Rolf Riehm in «Sarca – il fiume sarca» (1995) kantige Homophonie: ein stockender Klangfluss in überraschend radikaler Simultanität des Zusammenspiels. Das Ensemble Aventure agiert dort wie ein geschlossener Klang-Körper, der die Farb- und Beleuchtungswechsel der melodischen Bausteine auf den Punkt genau reflektiert.

Dirk Wieschollek