Cage, John

One7 | Four6

Verlag/Label: WERGO WER 6797 2
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2015/01 , Seite 85

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 4
Booklet: 4

Sabine Liebners Entdeckungsreise durch die amerikanische Avantgarde findet bei Wergo mit einer weiteren Cage-Einspielung eine eindrucksvolle Fortsetzung. Konnte man über Liebners betont kontemplative Auffassung der Etudes australes durchaus geteilter Meinung sein, stellt der Umgang der Münchener Pianistin mit den beiden «number pieces» One7 (1990) und Four6 (1990) einen Idealzustand an konzentrierter und fantasievoller Gestaltung eines radikal reduktiven, stillen Spätwerks dar.
Der Beginn ist symptomatisch: 34 Sekunden passiert erst einmal überhaupt nichts, bevor in One7 (also das siebte Stück für einen Spieler, der hier jeden beliebigen Klangerzeuger verwenden kann) ein tiefer, ruhiger Ton die Stille besetzt und eine Folge von solitären Klangereignissen in Gang bringt – akustische Inseln in einem Meer aus Stille, wo nicht nur der Klang zum Ereignis wird, sondern auch jede Pause. Und davon gibt es reichlich in dieser Interpretation. Aber was heißt schon Pause, was Stille! Sabine Liebner lässt die Klänge tief durchatmen, schärft dadurch die Wahrnehmung auf jedes Detail und vor allem die Aufmerksamkeit auf schier endlose Vorgänge des Verlöschens. In der geforderten Auswahl von zwölf differenten Klangereignissen, die Cages Zeitklammern – flexible Rahmen für die Entscheidungen des Spielers – mit Leben füllen sollen, findet sich eine Vielfalt von Klangfarben realisiert, aber alles Differente wirkt wunderbar sublim aufeinander bezogen. Konventionelle Tongebung, präparierte, gestrichene oder geräuschhaft-perkussive Klänge bilden rätselhafte Konstellationen und evozieren gelegentlich andere Quellen als ein Klavier.
Beide «number pieces» sind übrigens alles andere als zufällig ausgewählt, sondern aufs Engste miteinander verflochten: One7 ist die Stimme 1 aus Four6 (ebenfalls für «any way of producing sounds»). Sabine Liebner hat die Stimmen (mit je zwölf distinkten Klangereignissen, also ins­gesamt 48) im Mehrspurverfahren selbst eingespielt und übereinandergeschichtet, ohne sich im Moment des Spiels ihre potenziellen Zusammenklänge zu vergegenwärtigen. Will heißen, sie hat penibel darauf geachtet, dass die vier Einzelstimmen – hier realisiert als «Spieler» eines konventionellen Klavierparts, eines präparierten Klaviers, von Klängen im Klavierinnern und reinen Geräuschfarben – vollkommen unabhängig voneinander gestaltet werden. Eine Polyphonie der Vereinzelung, deren Klanginteraktion weniger auf Entscheidungen denn auf der Faszination zufälliger Begegnungen beruht. Dabei ist das Klanggeschehen natürlich wesentlich kontrastiver, ereignisreicher, heftiger als in One7, ja manchmal von geradezu bedrohlicher Grundstimmung, aber kaum weniger zwingend.
Wenn diese Musik ein Ziel hat, dann jenes, gängige Wahrnehmungsmuster von Raum und Zeit komplett auszuhebeln. Das gelingt Sabine Liebner hier in einer ausgesprochen spannungsvollen, wenn nicht geheimnisvollen Weise.

Dirk Wieschollek