Gur, Golan

Orakelnde Musik

Schönberg, der Fortschritt und die Avantgarde (= Reihe «Musiksoziologie», Band 18)

Verlag/Label: Bärenreiter, Kassel 2013, 254 Seiten
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/05 , Seite 92

Die Idee, dass die zeitgenössische Mu­sik ihrer kulturellen Bedeutung nur dann gerecht werden kann, wenn sie mit grundlegenden wissenschaftlichen und technischen Entwicklungen der modernen Zivilisation Schritt hält, hat im 20. Jahrhundert für bestimmte Bereiche der Musikkultur anhaltende Bedeutung erlangt. Einen erfreulich frischen Blick richtet Golan Gur auf den ideologischen Charakter dieses Gedankens: An den kulturellen und geistigen Voraussetzungen für die Entstehung des historischen Bewusstseins in der modernen Musik ansetzend, stellt er wesentliche Merkmale des auf Schönberg und Adorno zurückgehenden Avantgarde-Paradigmas dar, wonach der Lauf der Musikgeschichte irreversibel ist und sich Fortschritt in der Musik auf der Ebene des musikalischen Materials und der musikalischen Technik äußere.
Gurs Ausführungen zielen auf den widersprüchlichen Charakter dieser Denkweise: auf die Diskrepanz zwischen ihrem Anspruch auf universelle Gültigkeit und ihrer lediglich im Sinne von Werturteilen begreifbaren Basis. In diesem Missverhältnis kündigt sich seiner Auffassung nach jene Tendenz zur pauschalen Verallgemeinerung an, durch die bestimmte Entwicklungen des aktuell Produzierten als fortschrittlich im Sinne einer nicht weiter hinterfragbaren Ordnung gedeutet werden, ohne dass dabei der Vielfalt moderner Kunstbewegungen Rechnung getragen wird.
Vor diesem Hintergrund widmet sich der Autor zunächst einer historisch-kritischen Untersuchung der Fortschrittsidee in der Musikgeschichtsschreibung und schlüsselt ihre philosophischen Grundlagen auf. Gestützt auf allerlei analytische Beobachtungen zeigt er anschließend, inwiefern das Ineinandergreifen von Schönbergs Tätigkeiten als Komponist und Theoretiker zur Fundierung der Vorstellung vom musikalischen Fortschritt und ihrer Wahrnehmung als Vordergrund des musikalischen Diskurses beigetragen hat. Schließlich verfolgt er die hieraus erwachsenden ästhetischen Implikationen mit Blick auf die Musikgeschichte nach 1945 bis in institutionelle Strukturen des Musiklebens hinein.
Mit seinen detailreichen Ausführungen macht Gur zwar einerseits deutlich, dass Diskussionen um den Fortschritt immer als Mythenbildungen mit ideologischer Funktion fungieren, die aus kulturwissenschaft­licher Sicht «für das Verständnis der Realität von fundamentaler Bedeutung sind»; andererseits betont er jedoch auch, dass die schon zu Schönbergs Zeiten geäußerte «Skepsis bezüglich des Fortschritts der Musik und der grenzenlosen Anpassungsfähigkeit der Hörgewohnheiten ernster genommen werden» sollte, als dies bislang der Fall war.
Indem er seine ebenso klugen wie umsichtigen Darlegungen mit der gleichwertigen Untersuchung zustimmender und kritischer Positionen verschränkt, wirbt der Autor letzten Endes für ein aktuelles «pluralistisches Konzept der musikalischen Moderne», das der Realität viel eher entspricht als die Einseitigkeit und historische Uninformiertheit manch heute geführter ästhetischer Debatte.

Stefan Drees