Schostakowitsch, Dmitri

Orango – Prologue (World premiere recording) / Symphony No. 4 in C minor

Verlag/Label: Deutsche Grammophon 479 0249 | 2CDs
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2013/01 , Seite 79

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 5

Welch eine Entdeckung! Im Schaffensumkreis seiner Meisteroper Lady Macbeth von Mzensk, die ihm die offizielle Verdammung durch Stalin eintrug, hegte der junge Schostakowitsch zum 15. Jah­restag der Oktoberrevolution die Idee einer Opernsatire wider die inhumanen Auswüchse der modernen Zivilisation. Ihr wilder Plot, den der Schriftsteller Alexei Tolstoi ausbrütete, drehte sich um einen Affenmenschen: ein Kreuzungsexemplar namens Orango, das es vom Weltkriegssoldaten zum Pariser Geschäftsmann und Pressemogul bringt. Verraten und an einen sowjetischen Zirkus verkauft, wird er in Moskau den Massen zur Schau gestellt. Den äußeren Anstoß gab das Bolschoi-Theater, das ein Zugstück für den Jubiläumstrubel suchte. Doch machte der 1932 einsetzende innenpolitische Schwenk, der in den «großen Terror» mündete, das Opernprojekt zunichte. Da hatte Schostakowitsch den halbstündigen Prolog schon zu Papier gebracht, und zwar als Klavierauszug. Die russische Musikforscherin Olga Digonskaya fand ihn 2004 im Moskauer Glinka-Museum.
2006 bat die Witwe des Komponisten, Irina Schostakowitsch, den britischen Komponisten Gerard McBurney, die aufgefundenen Klavierskizzen zu orchestrieren – mit der Empfehlung, sich an Parallelstellen aus dem Ballett Der Bolzen und andere Bühnenstücke jener Jahre zu halten, darunter Lady Mac­beth. Inszeniert von Peter Sellars, der das Beiheft der Ersteinspielung mit einem trefflichen Kommentar versah, gelang dem finnischen Dirigenten und Komponisten Esa-Pekka Salonen im Dezember 2011 eine musiktheatralisch pralle Uraufführung des Prologs zur Oper Orango mit dem Los Angeles Philharmonic, dem Los Angeles Master Chorale und einer Riege vorzüglicher Gesangssolisten (darunter Ryan Mc­Kinny als Conferencier und Eugene Brancoveanu als «humanoider» Affe Orango). Die Deutsche Grammophon ergriff die Gelegenheit, die glanzvolle Weltpremiere in der Walt Disney Hall zu Los Angeles zu dokumentieren. Das beigefügte Libretto – russisch und englisch – auf dem Schoß, glaubt sich der Hörer unmittelbar hineingezogen in die groteske Klangszenerie.
Für welche Schostakowitsch auf Teile seines (abgesetzten) Industrie-Balletts Der Bolzen op. 27 und seiner Revue Der bedingt Ermordete op. 31 zurückgriff. Zudem schien es ihn zu vergnügen, vielsagend mit Fremdzitaten zu spielen (z. B. aus Boris Godunow oder dem Kinderlied Chizhik-Pyzhik). Eine kriecherische Arie karikiert die sowjetische Pseudowissenschaft, die sich an die Stelle der Religion setzt. Parodistisch durchmisst Schostakowitsch die Stationen der unausgeführten Oper, die das Leben Orangos im Rückwärtsgang aufrollen sollte.
In jenen Schreckensjahren arbeitete der verfemte Komponist an einer gigantischen Symphonie: seiner Vierten. Mit dem Orango-Prolog gekoppelt, strahlt dieses nervöse, unzusammenhängende, zerfetzte, filmschnittartige Opus magnum eine fast beängstigende Faszination aus. Allein die Exposition des Kopfsatzes umfasst 476 Takte. Keinem Formvorbild verpflichtet, gleicht das Finale einem Friedhof eigener, unterdrückter oder gemaßregelter Klangideen. Mit seinem großartigen Orchester bohrt sich Salonen in die Abgründe dieses tragischen Bekenntniswerks.

Lutz Lesle