Donatoni, Franco

Orchestral Works

Verlag/Label: NEOS 11410
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2015/01 , Seite 87

Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 5
Booklet: 5

Die Dekonstruktion eines gegebenen musikalischen Materials gehörte für Franco Donatoni seit Mitte der 1960er Jahre zu den Grundprinzipien seines kompositorischen Schaffens. Angelehnt an Stockhausens Momentform reihte er einzelne «Pannelli» [Platten, Paneele] aneinander, innerhalb derer er dieses Material nach abstrakten Regeln immer neu rekombinierte. Später verzichtete er auf den «Automatismus» der Regel, wollte unter dem Eindruck einer tiefen Depression zuerst ganz aufhören zu komponieren und arbeitete dann völlig frei, intuitiv. Die innere Not der Komponisten äußert sich freilich nicht in einer wilden, dramatischen Tonsprache. Konsequent atonal und dissonant, sind die späten Orchesterwerke vielmehr von höchster Transparenz und rhythmischer Prägnanz.
Dies zeigt sich an den drei Kompositionen In Cauda II, III und V: Sie beruhen jeweils auf dem vorangegangenen Werk der Serie, wobei Nummer I für Chor und Orchester und Nummer IV für vier Frauenstimmen und Orchester jeweils von Texten ausgehen, die daher indirekt auch in die reinen Orchesterwerke hineinspielen. Im ersten Fall ist dies ein unübersetzbares lateinisch-italienisches Gedicht von Brandolino Bran­dolini d’Adda, dessen Bedeutung ganz auf der Ebene der Anklänge zu suchen ist. «In Cauda», um nur die Grundbedeutung zu nennen, bezieht sich auf ein Sprichwort, das besagt, das Gift des Skorpions sei nur in seinem Schwanz enthalten – was immer damit in diesem Fall metaphorisch besagt sein will. Heraushören lässt sich hier nur, dass In Cauda III Material aus In Cauda II aufgreift – leicht wiederzuerkennen an der rhythmischen Struktur – und grundlegend anders verarbeitet. Es will scheinen, als ob Donatoni auf diese Weise, am meisten in Esa (In Cauda V) – geschrieben für seinen Schüler Esa-Pekka Salonen im Jahr 2000 kurz vor seinem Tod  –, in zunehmend jen­seitige Sphären vorstößt.
Yoichi Sugiyama ist in diesem Fall nicht nur der Dirigent; er war Interpret im doppelten Sinn, indem er dem bereits ans Bett gefesselten Komponisten bei der Abfassung des Werks half und im Falle von Prom, dem vierten Werk der CD, Donatonis kaum leserliche Partitur durch seine Umschrift erst zugänglich machte. Die CD lebt von dieser intimen Vertrautheit mit dem Werk. Nach einer aufsteigenden, beschleunigenden Pha­se nimmt das Stück mit chromatischen Läufen fast beschwingt Fahrt auf und kommt am Ende mit schweren Orchester-Clustern retardierend und absteigend zum Halt. Das Duo per Bruno – am Ende der CD, aber zwei Jahrzehnte früher geschrieben –, enthält im Kern fast die ganze Entwicklung des Komponisten. Als Epitaph für Bruno Maderna, der in Venedig zur Welt kam und Donatoni geprägt hat, beruht es auf einem venezianischen Liedchen, was nur be­merken kann, wer mit der Melodie gut vertraut ist. Es rekapituliert so­mit die Musikhistorie vom schlichten Liedgut bis hin zur Atonalität durch Transformation und Steigerung, um zugleich immer im mittleren von 27 Takten die Totenglocken für Maderna zu läuten.

Dietrich Heißenbüttel