Utz, Christian (Hg.)
Organized Sound
Klang und Wahrnehmung in der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts (= musik.theorien der gegenwart, Band 6)
Im Mittelpunkt dieser Aufsatzsammlung stehen philosophische und musikwissenschaftliche Überlegungen, die sich mit Klang und Wahrnehmung befassen. Das Kompendium beinhaltet englische und deutsche Texte, die inhaltlich sehr dicht und komplex ausgefallen sind. Die folgenden Ausführungen sind als Sampling zu verstehen, das einen Einblick in die umfangreiche Themenauswahl des Bandes geben soll.
Nikolaus Urbanek geht in seinem Essay der Frage nach, ob man über Klang nur unter Verwendung «der ärmsten aller sprachlichen Kategorien, nämlich der des Adjektivs», sprechen kann. Eine Anmerkung, die Roland Barthes in Hinblick auf die Musikkritik machte, die allerdings auch in diesem Kontext greift. Die Musikwissenschaft bezeichnet er als «eine klangvergessene Partiturwissenschaft». Bislang vernachlässigt wurde die «sinnliche Oberfläche der Musik», die Urbanek mit einigen Überlegungen zum Sound in der Musik der Wiener Schule zu durchdringen anstrebt. Elena Ungeheuer spricht in ihrem Aufsatz auch die Klangvergessenheit der Musikwissenschaft an und weist auf Leerstellen hin. Musiktheoretische Klangforschung harre noch immer ihrer Umsetzung, meint sie. Die «Verbalisierung von Klangphänomenen [
] jenseits von Funktionsharmonik, Kontrapunkt und Instrumentenkunde» werde bislang noch unzulänglich behandelt. Diese Lücke füllt Emmanouil Vlitakis, der sich mit der Klangwahrnehmung der spektralen Musik beschäftigt, nämlich mit den sogenannten Schwellenphänomenen oder «der Mehrdeutigkeit klanglicher Phänomene», wie sie etwa in den Arbeiten von Gérard Grisey und György Ligeti anzutreffen sind. Spektralisten spielen auch in Lukas Haselböcks Text eine wichtige Rolle, der in seinen Überlegungen zur Klangfarbenlogik bei Arnold Schönberg, Grisey und Tristan Murail über Konnexionen zwischen der «frei atonalen und der spektralen Musik» nachdenkt. Christoph Reuter präsentiert eine kurze Geschichte der Klangfarbenforschung, die in der Mitte des 18. Jahrhunderts beginnt und heutzutage durch den Einsatz digitaler Signalverarbeitungsmechanismen bestimmt ist.
Thomas Christensen macht in seinem Beitrag darauf aufmerksam, wie schwierig es ist, über Klang zu reden, da dieser Begriff ganz unterschiedliche Bedeutungen haben kann. Man spricht vom Klang der Stimme, vom Klang einer Komposition, von Klangästhetik oder vom Klang eines bestimmten Musikgenres, um nur ein paar Verwendungen zu nennen. Mechanismen der «quantification and objectification» treten somit im Zusammenhang mit dem Begriff Klang auf. «Sound has always seemed to resist our efforts to control and define it», schlussfolgert der Autor und hinterfragt damit die unterschiedlichen definitorischen und theoretischen Approximationen, die im Kontext des Klangbegriffs unternommen werden. Die zahlreichen Klang-Experimente des 20. und 21. Jahrhunderts sieht er als Reaktion auf die Unmöglichkeit, den Begriff Klang unter sprachlichen und musiktheoretischen Prämissen dingfest zu machen.
Raphael Smarzoch