P16.D4

Passagen

CD 1: Kühe in 1/2 Trauer | CD 2: Distruct | CD 3: nichts niemand nirgends nie | CD 4: Tionchor | CD 5: acRID acME | CD 6: Three Projects | DVD: P16.D4 – Ethereal ephemera

Verlag/Label: Monotype Records, mono060
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2013/04 , Seite 84

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 4
Booklet: 5

Dilettantismus war pure Absicht, die Trennung des Klangmaterials in «Mu­sik» und «Lärm» absolut aufgehoben. Monoton, linear, repetitiv: so reproduzierte das Mainzer multimediale Projekt P16.D4 akustisches Material, verknüpfte Geräusche mit Musik und verarbeitete bereits existierendes Klangmaterial aus früheren Produktionen weiter. P16.D4 zählten wegen ihrer
radikal-kompromisslosen Noise-Strukturen zur Industrial-Bewegung und schöpften mit dem Eintritt von Ralf Wehowsky in die Band voll aus dem Repertoiremöglichkeiten der Musique concrète.
Die Verwandlung profaner Geräusche in Sound Art und die konsequent praktizierten Arbeitsprozesse des Cut-up, der Manipulation des Tempos, die sonst unliebsamen Nebengeräusche der Bandmaschinen, das Overdubbing: die hier veröffentlichte Retrospektive in Gestalt einer aufwändig produzierten 6-CD-Box (plus Bonus­tracks, DVD, Postkarten und umfangreichem Booklet) erinnert an ein deutsches Projekt mit internationaler Reputation. Das Horten, Archivieren und Verändern von akustischem Material war für Ralf Wehowsky, Roger Schönauer, Ewald Weber und Stefan Schmidt der notwendige Schritt in die Realität des Lärms, der Geräusche und ihres wiederverwertbaren Klangmaterials. Passagen enthält sechs klassische LP-Produktionen auf CD, deren Erstveröffentlichung zwischen 1982 und 1991 die musikalische Avantgarde überraschte und die heute als Zeitzeugnis die experimentelle Musik in Deutschland während der Punk- und NDW-Jahre darstellen.
P16.D4 konzentrierte sich nach ihrem Debütalbum Kühe in 1/2 Trauer (1984) mit dem zweiten Longplayer Distruct (1985) auf eine interaktive Kollaboration mit 14 anderen Noise-Projekten wie Die Tödliche Doris, Merzbow, Nurse With Wound oder Vortex Campaign, ohne eine klassische Ansammlung verschiedener Musiken auf einem Tonträger anzustreben. Das Projekt war als Assemblage angelegt: Die beteiligten Künstler lieferten rohes Klangmaterial aus unterschiedlichen Orten der Welt, das zwischen 1982 und 1984 unter der Regie von P16.D4 diversen Manipulations- und Collageprozessen unterworfen wurde: Aufbrechen der Strukturen, Verbinden von separaten Noise-Spektren, Geschwindigkeitsveränderung, Hinzufügen von anderem Klangmaterial (Overdubbing).
Ein gemeinsames Projekt mit S.B. O.T.H.I. (Swimming Behaviour Of The Human Infant mit Achim Wollscheid) stellte Studioaufnahmen von P16.D4 als Ausgangsmaterial für Wollscheid bereit, der seine Bearbeitungen in die Stücke zurückfließen ließ. Auch hier fand ein Austausch statt, der verschiedene Arbeitsphasen in kreativer Manipulation in ein neues, von Geräuschen dominiertes Klangereignis umwandelte. Der freie Fluss künstlerischer Ideen und Gedanken zwischen von­einander unabhängig arbeitenden Musikern setzte eine Art soziale Soundkultur frei, die sich nicht mehr an bestehen­de Abgrenzungen hielt, sondern einer größtmöglichen Kooperation Gleichgesinnter gestalterischen Freiraum überließ. Und das im Sinne einer konkreten Musik, die schon für sich genommen einen der Allgemeinheit entnommenen Geräuschreichtum frei zugänglich machte.

Klaus Hübner