Andre, Mark

Piano Music

Verlag/Label: Wergo WER 67832
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/01 , Seite 84

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 5

Auf den ersten Blick mag es erstaunen, dass ein Komponist wie Mark Andre für Klavier schreibt, ist er doch in den letzten Jahren durch ziselierte Klanglandschaften für größere Instrumentalbesetzungen in den Fokus gerückt. Andres auf feinsten Geräuschabstufungen und stofflichen Details beruhende Musik scheint dem Klavier eher zu widerstreben. Dennoch ist das diastematisch so festgefügte Instrument von Anfang an eines der wichtigsten für Andre gewesen, der fasziniert war von den Verlöschungsvorgängen pianistischer Klangerzeugung, will heißen: dem Raum zwischen den Anschlägen.
Lange Nachhallzeiten unterschiedlichster Physiognomie, provoziert von perkussiven Attacken, sonoren Erschütterungen oder flüchtigen Figuren, herkömmlichem oder präpariertem Klavierklang bestimmen denn auch das raumgreifende S1 für zwei Klaviere (2009-12) im dialektischen Wechselspiel von Klang und Stille. Es gibt (seit der amerikanischen Avantgarde) eine Tradition solcherart (Klavier-)Musik, aber man hat das schon lange nicht mehr so differenziert und spannungsintensiv gehört. Trotz aller Losgelöstheit von historischen Vorbildern scheint dabei die Düsternis von Liszts später Klaviermusik durch dieses Stück zu geistern, bevor S1 sich am Ende in lichtere Gefilde und die Geräuschwelt des Klavierinneren verabschiedet, wo «das Verschwinden als aktive Kategorie» (Andre) aufgefasst wird.
Das prinzipiell Unabgeschlossene und Unendliche ist Thema schon in Un-fini III (1993-95), entstanden wäh­rend Andres Aufbaustudium bei Helmut Lachenmann. Das hochkomplexe Stück, dessen polymetrische Klangprozesse von Algorithmen gesteuert sind, ist eher von einem rhapsodischen Reichtum an Akkordfarben und Motivgestalten bevölkert als von mikroskopischen Geräusch- und Resonanzwerten. Aber schon Anfang der 1990er Jahre begegnet hier eine staunenswerte Konzentration und Ausdrucksfähigkeit der musikalischen Sprache.
Eine ganze Serie von Stücken, die sich dem «Problem der Introvertiertheit» widmen, setzte iv 1 (2010) in Gang, wo perkussive Klang- und Geräuschwerte das Geschehen dominieren. Eine im Ablauf unvorhersehbare Klangreise, die auf der Suche nach dem Metaphysischen die Tastatur zunehmend verlässt. Andre verwandelt den Flügel dabei durch minutiösen Gebrauch der diversen Pedal- und Dämpfungstechniken in eine komplexe Schwingungsmaschine, die geradezu elektronische Farben produziert. Rein perkussive Aphorismen bilden iv 11a und iv 11b (2011), wobei Letzteres ausschließlich mit Klopfgeräuschen auf dem Korpus, stummem Tastendruck und Pedalisierung auskommt, um eine Hauptintention von Andres Musik zur Sprache zu bringen: «nur die extrem schattenhaften Schattenspuren hören lassen».
Tomoko Hemmi und Yukiko Sugawara, solistisch und als Duo seit langem der neuen Musik verpflichtet, füllen hier Klang und Schatten, expressives Ereignis und flüchtiges Verlöschen gleichermaßen mit Leben. Eine herausragende Aufnahme!

Dirk Wieschollek