Sciarrino, Salvatore

Piano Works

Verlag/Label: NEOS 11124
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/02 , Seite 86

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 4
Booklet: 4

Ganz traditionsverhaftet in ihren Werktiteln gibt sich die Klaviermusik des sizilianischen Komponisten Salvatore Sciarrino: Was als Sonata oder Notturno auftritt, verweist im Äußeren auf das klassisch-romantische Zeitalter. Doch in der klanglichen Erscheinung der Werke entdeckt man Sciarrinos typische Ästhetik, wie man sie von seinen Bühnen- oder Orchesterwerken kennt. Eine Kunst des Leisen, wo die Töne raunen und wispern und sich die Geschehnisse aus kurzen, fast amorphen Gesten fügen: das ist die Welt, in der sich Sciarrinos Musik vorzugsweise bewegt.
Ähnliche Effekte mit den Mitteln des Klaviers zu erzielen, erfordert eine höchst differenzierte, zu minimalen Dynamikschattierungen fähige Anschlagskunst. Der Pianist Florian Hoelscher, einst Schüler von Robert Levin, Michel Béroff sowie Pierre-Laurent Aimard und heute Professor für Klavier- und Kammermusik in Luzern, verfügt über die dazu nötige Feinnervigkeit, wie er gleich in Sciarrinos Notturni Nr. 1 und 3 zeigt. Kleine, perlende Tongirlanden und engräumige, durch Pedalisierungen leicht verwischte Bewegungsmotive lässt der Komponist mit repetitivem Pochen, quasi geisterhaften Klopf­zeichen, wechseln, unterbricht diese Piano- und Pianissimo-Ereignisse aber auch mit harten, wie Karateschläge hineinfahrenden Akzenten. Nicht um entspannte Abend-Ständchen handelt es sich hier also, sondern eher um alptraumhafte Phantasmagorien.
Ein musikalischer Pointillismus prägt auch die Faktur der fünften Sonata aus dem Jahr 1994. Kurze, sich windende Tonfiguren stehen isoliert und werden nur gelegentlich stärker verdichtet. Sciarrinos Musik wird in dieser eine gute Viertelstunde währenden Sonate zu einer Schule des Zuhörens, denn es ist Leistung ebenso des Rezipienten wie des Pianisten, die punktuellen Ereignisse wie Steinchen eines Mosaiks zu Figuren und greifbaren Gestalten zusammenzudenken.
Fließendere Verläufe vernimmt der Hörer dagegen in der 1976 entstandenen ersten Sonata mit ihren fluktuierenden Klangbändern aus Trillern, Glissandi und Tonleiterkaskaden. Faszinierend ist, wie Florian Hoelscher bei seiner Interpretation dieses Werks dem Flügel schillernde und oszillierende Klangfarben entlockt, die auch ohne klare thematische Kontur anzunehmen über einen langen Zeitraum zu fesseln vermögen.
Wieder in eine andere Geisteswelt taucht der Hörer in Sciarrinos Perduto in una città d’acque ein, das in der Nachfolge des romantischen Charakterstücks zu stehen scheint. Vereinzelte, spärlich verstreute Tonpunkte in wechselnden Registern, später gefolgt von kurzen Bewegungen, deuten einen weiten wogenden Raum an, der wiederum eher zu erahnen als deutlich wahrzunehmen ist. Die vom Komponisten imaginierte Wasserwelt scheint sich in kleinen Lichtpunkten zu materialisieren, welche die Sonne auf den Wogen in einer ganz sanften Dünung tanzen lässt.

Gerhard Dietel