Pierre Boulez und das Klavier

Douze Nota­tions / Première Sonate / Deuxième Sonate / Troisième Sonate / Incises / Une page d’éphéméride – Aufnahmen mit der Originalstimme von Pierre Boulez (3 SACDs)

Verlag/Label: Cybele KiG004
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2012/06 , Seite 82

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 3

Es ist der «Zugang zum Menschen hinter dem Kunstwerk», den Mirjam Wiesemann und Ingo Schmidt-Lucas vom Düsseldorfer Label Cybele im Visier haben, das Leben des Künstlers «im Spannungsfeld zu seinen Lebensumständen, der politischen Situation, seiner Familie, seiner körperlichen und geistig-seelischen Verfassung und der Zeit, in der er lebt». Pierre Boulez ist in dieser – durchaus romantisch geprägten – Perspektive ein heikles Objekt der Begierde. Sein verbales Mitteilungsbedürfnis zielt nicht gerade auf Privates. Der Mensch «hinter dem Kunstwerk» bleibt im Fall Boulez ein durchaus liebenswürdiges, aber auch «kühles We­sen». Und ein alter Bekannter.
Es sind gewiss keine Neuigkeiten, die Mirjam Wiesemann im Interview mit dem französischen Komponisten und Maestro zutage fördert. Zum Teil ist dies der etwas behäbigen Gesprächsführung geschuldet, die offenbar im Dienste einer Mitteilung möglichst vieler biografischer Fakten und Hintergrundinformationen steht. Auf den abgelesen klingenden Fragenkatalog antwortet Boulez kaum mehr als routiniert: mit vielen ohnehin schon bekannten Statements, mit bekannten Korrekturen falsch kolportierter Aussprüche, mit der gegenseitigen Befruchtung der Interpretations- und Kompositionssphäre oder mit Rückblicken auf die Avantgarde, die wenig Neues zutage fördern. Sicher ist der Mangel an spannenden Momenten auf die weitestgehend erforschte und schon oft behorchte Persönlichkeit zurückzuführen. Dennoch: An der ein oder anderen Stelle vermisst man ein investigativeres Nachhaken. Oder den Rotstift, der manch Oberflächlich-Überflüssiges eliminiert hätte.
Nicht nur das 45-minütige Interview mit Boulez bietet die CD aus dem Hause Cybele, sondern auch ein weiteres Gespräch mit dem fantastischen Pianisten Dimitri Vassilakis und nicht zuletzt: dessen Einspielungen nicht des gesamten, aber doch wesentlichen Klavierwerks (früh hatte Boulez schon viele Stückchen verfasst, die nicht dokumentiert sind). Jene Frische und Spontaneität, die man im Interview mit Boulez vermisst, tritt hier zutage. Die Douze Notations von 1945 überraschen noch immer mit einer unglaubliche Energie und Dichte. Ungleich sperriger, durchaus auch serialistischer klingt die Troisième Sonate, entstanden in den Jahren 1955-57 und 1963 neu gesichtet. Auf die virtuosen Bedürfnisse eines Klavierwettbewerbs zugeschnitten, beendet Boulez das atemlos mitreißende Incises und schließt 2005 sein solistisches Klavierschaffen vorläufig ab mit dem impressionistisch farbenprächtigen Une page d’éphéméride. Das Spiel von Vassilakis wird den vielen Herausforderungen mehr als gerecht. Die Höchstnoten unter Vorbehalt – sie beziehen sich «nur» auf die Musik.

Torsten Möller