Pierre-Laurent Aimard – Not Just One Truth

Porträt von Jan Schmidt-Garre, mit Werken von Johann Sebastian Bach, Elliott Carter, George Benjamin und Ludwig van Beethoven

Verlag/Label: Medici Arts 2055798
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2010/01 , Seite 78

Pierre-Laurent Aimard: Porträt nach Baukasten­system

Das DVD-Porträt von Pierre-Laurent Aimard, das der Musikfilmautor Jan Schmidt-Garre produziert hat, ist im Vergleich zur klassisch-einfachen Darstellungsweise bei Gilels facettenreicher und beweglicher im Einsatz der Mittel. Es profitiert von den neuen Möglichkeiten der digitalen Technik und trägt auch den durch die audiovisuellen Medien veränderten Wahrnehmungsgewohn­heiten Rechnung. Das Porträt besteht aus drei Elementen: einem Konzertmitschnitt von 2008 aus der Bayerischen Akademie der Schönen Künste in München, einem halbstündigen, fernsehkompatiblen Feature und einem ausführlichen 73-minütigen Interview mit dem Künstler. Mit dieser Baukastenanordnung unterscheidet es sich etwa von den Fernsehfeatures eines Bruno Monsaingeon, der Konzert- und Probenmitschnitte, Interviews und sonstige Aufnahmen in eine einzige Form einschmilzt.
Wie bei Gilels wird auch hier die Konzertsaalsituation abgebildet, aber nun gerade aus der entgegengesetzten Perspektive: Die Kameras sind auf der Bühne postiert. Eine steht hinter dem Flügel und zeigt den Interpreten halbnah von links, mit den Gesichtern des Publikums in Frontalansicht dahinter – und Akademiemitglied Sigi Mauser in hellbrauner Lederjacke im Dauer-Fokus. Das lockert zwar das strenge Ritual der Konzertsituation auf, ist aber der Konzent­ration auf die anspruchsvolle Musik von Bachs Kunst der Fuge über Elliott Carter und George Benjamin bis Beethovens op. 110 nicht unbedingt zuträglich. Die Schnitte erfolgen häufig unabhängig von den musikalischen Zäsuren – auch das eine freiere, wenngleich nicht unbedingt zwingende Darstellungsweise. Insgesamt gelingt dem Film aber eine Darstellung, die den Vorgang der Interpretation in seiner Vielschichtigkeit durchaus einsichtig zu machen versteht.
Das Feature entwirft ein gedrängtes Porträt von Aimard, das die Informationen kaleidoskopartig verpackt. Es springt von dem Konzert in der Münchner Akademie, wo Aimard mit der Kunst der Fuge zu Gange ist, rasch zum Bach-Forscher Christoph Wolff nach Harvard, der feststellt, das ein solches Werk vor Bach noch nie geschrieben wurde, und von dort nach New York, wo Aimard bei Elliot Carter zu Hause empfangen wird: «Are you staying for long – you’re doing the Beethoven Third?» Dann wird an Carters Komposition gearbeitet. In den dazwischengestreuten Interview-Teilen präsentiert sich Aimard als Pianist mit scharfem Intellekt, der sehr genaue Vorstellungen von der Musik hat und das auch verbal gut zu kommunizieren weiß: Wie Komponist und Interpret aufeinander eingehen, wie der Klang des Flügels dem Saal angepasst werden kann, wie man sich als Interpret auf die Epoche, aus der ein Werk stammt, einzustellen hat. Über die Konzertausschnitte werden Interviewteile und Textblöcke mit Sachinformationen zum Repertoire gelegt – dass die Musik von Bach und Carter hier zum bloßen Soundtrack degradiert wird, dürfte nicht jedermann erfreuen, lässt sich aber rechtfertigen durch die Tatsache, dass diese Stücke ja hinterher im Konzertmitschnitt als Ganzes nochmals zu hören sind.
Das dritte Element dieses DVD-Porträts ist das lange Gespräch zwischen Aimard und dem Filmautor in englischer Sprache, leider ohne Untertitel. Ausgehend von biografischen Details öffnet sich das Gespräch zu allgemeinen Fragen der Interpretation und zu Kommentaren zu den aufgenommenen Stücken. Wem das halbstündige Feature zu überfliegerhaft ist, der kann sich hier ein genaueres Bild von diesem außerordentlich vielseitigen Pianisten machen, der analy­tisches Denken mit einem einzigartigen Kunstverstand zu verbinden weiß; auch bescheidene Fragen animieren ihn dazu, rasch zum Wesentlichen eines Werks oder einer kompositorischen Fragestellung vorzudringen.

Max Nyffeler