von Bredow, Moritz
Rebellische Pianistin
Das Leben der Grete Sultan zwischen Berlin und New York
«Sie war eine unglaublich starke Persönlichkeit. Das zu ertragen, was sie erlebt hat
» Nach der Lektüre des Buches kann man dem Tänzer Merce Cunningham, der mit John Cage zu Grete Sultans engstem Freundeskreis in den USA gehörte, nur beipflichten. Das mörderische Jahrhundert zweier Weltkriege und der infamsten Pogrome aller Zeiten hat die aus Deutschland verjagte Pianistin komplett durchlitten. Wobei sie ihren inneren Halt nie verlor. Ihre geistige Welt rettete sie hinüber ins Exil. Mit Bachs Goldberg-Variationen und Beethovens Diabelli-Variationen als Grundfesten eines erlesenen Repertoires, das von Frescobaldi bis zu Henry Cowell und Aaron Copland reichte und in ihren 70er und 80er Lebensjahren! in den Etudes Australes von John Cage gipfelte, dem Vermächtnis ihres getreuen Schachspiel-Partners. Wer sich ihrer gemeinsamen Auftritte 1975 bei «pro musica nova» in Bremen oder 1991 bei «Aspekte Salzburg» erinnert, dem bleibt die in sich gekehrte, doch (laut Theodor W. Adorno) innerlich rebellische Pianistin ebenso unvergesslich wie die leise Verschmitztheit ihres dem kalkulierten Zufall ergebenen Geistesfreundes.
Einer ihrer nachgeborenen Bewunderer ist der Hamburger Kinderarzt Moritz von Bredow. Während seiner mehrjährigen Recherchen konnte er die Greisin noch öfter befragen wunderbare Begegnungen, die er dem Leser mit dem unsentimentalen Blick des ästhetisch sensiblen Arztes nahebringt. Sein Buch beginnt wie ein Dokumentarfilm: «November 2002: Grete Sultan ist beinahe hundert Jahre alt und schon seit langem die älteste Bewohnerin des Westbeth Artists Housing im westlichen Teil des New Yorker Künstlerviertels Greenwich Village. Sie sitzt im Korbstuhl am Fenster ihrer Wohnung, deren Zentrum zwei Flügel bilden. Die Pianistin wirkt klein, ihr Rücken ist gebeugt, sie umfasst auch im Sitzen ihren Stock. Aber sie lächelt, hell und klar sind ihre Augen, ihre Stimme beinahe mädchenhaft
Knorrig gebogen sind die Finger, die bläulichen Venen liegen wie Perlenschnüre unter der Haut, knotig verdickt die Gelenke. In diesen Händen, mit denen Grete Sultan seit mehr als neunzig Jahren Klavier spielt, konzentrieren sich ihr Ausdruck und ihre Kraft, ihre Sprache, Mimik und Gestalt.»
Womit schon alles Wesenhafte über die Künstlerin gesagt ist. Dem kulturtragenden jüdischen Großbürgertum Berlins entstammend, ertrug sie die unwürdigsten Lebensumstände in unbeugsamer Würde: Entrechtung und Verfemung durch die NS-Behörden, Lehr- und Auftrittsverbot, letztmögliche Flucht nach Lissabon im plombierten Reichsbahnzug, Atlantik-Überquerung im vollgepferchten Seelenverkäufer, mühsamer Neubeginn in einer fremden Welt. Wo ihr alte Freunde zur Seite standen. Darunter die schon vorher emigrierte dichtende Pädagogin Vera Lachmann, eine Freundin aus Kindertagen. Und ihr erster Klavierlehrer, der Amerikaner Richard Buhlig. Auch ihr großer Kollege und Förderer Claudio Arrau, der 1935 in Berlin an zwölf Abenden Bachs gesamtes Klavierwerk gespielt hatte. Ihre Freundschaft währte an die siebzig Jahre. Ihm und anderen wichtigen Weggefährten und Lehrern (Leonid Kreutzer, Edwin Fischer, John Cage) widmet der Autor aufschlussreiche Seitenblicke. Desgleichen den kultur- und zeitgeschichtlichen Aspekten ihrer Biografie. Stichworte: Berliner Musikleben zum Jahrhundertbeginn, Musik im NS-Staat, Schicksale der Eltern, Geschwister und Verwandten, Einwanderungsland USA, späte Würdigung in Deutschland.
Lutz Lesle