Oberhoff, Bernd

Richard Wagner: Der Ring des Nibelungen

Eine musikpsychoanalytische Studie

Verlag/Label: Psychosozial-Verlag, Gießen 2012 | 423 Seiten
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2013/01 , Seite 47

Ein Rollstuhl für Wotan gehört längst zu den vertrauten Requisiten im Fundus des Regietheaters. Weniger geläufig dagegen ist die Vorstellung vom Komponisten der Götterdämmerung auf der Couch. Das aber könnte jetzt anders werden, denn der vorliegende analysierende Gang durch die vier Ringopern verdankt sich der an Sigmund Freud geschulten Lesart eines Musikpsycho­analytikers, der sehr genau Auskunft darüber gibt, was sich Wagner mit seinem opus magnum so alles von der Seele geschrieben hat. Der Autor kritisiert und korrigiert die gängige Reduzierung des Ring-Sujets auf die Polarität von Liebe und Macht, er decodiert den Zyklus als ein entwicklungspsychologisches Drama, und er koloriert das überlieferte Wagnerbild mit den dunkleren Tönen tiefenpsychologischer Provenienz. Demnach ist der Ring eine einzige große Baustelle der Ich-Findung zweier Protagonisten (Siegfried und Brünnhilde), die nicht gelingen will, weil beide «wichtige Schritte der Ich-Entwicklung nicht gemeistert und keinen Zugang zur inneren Realität» gefunden haben. So scheitern sie an der Antinomie von Symbiose und Individuation; sie sind unfähig, in der irdischen Realität eine Liebesbeziehung aufzubauen. Als Ausweg bleibt ihnen nur der «lachende Tod»: ein Abschied aus dieser Welt und die vage Hoffnung auf ein jenseitiges Glück.
Dieses tragische und zugleich hoffnungsvolle Ende im Blick fragt Oberhoff nach der je eigenen «psychologischen Sinnebene» der vier Opern. Er findet sie in der «Heldenreise des frühen Ichs» (Rheingold), in der «Delegierung des Schuldkomplexes» (Walküre), in Siegfrieds «Kampf mit dem väterlichen Phallus» (Siegfried) und schließlich im «Scheitern der Individuation» (Götterdämmerung).
Dass der Autor in Wagner selbst eine konflikthafte Persönlichkeit erkennt, deren psychische Defizite sich im Bühnengeschehen widerspiegeln, ist das eigentlich Neue an dieser Studie, die gleichwohl dem Ring auch jenseits der persönlichen Pathologie eine «bemerkenswerte Tiefenschärfe für Vielfalt und Gesetzmäßigkeiten der menschlichen Psyche allgemein» attestiert. Wagner, der sich seiner misslungenen Individuation selbst nicht bewusst gewesen sei, habe das Unverstandene als «somatische Empfindungsmusik» im Ring-Drama ausgedrückt. Mit anderen Worten: Der Komponist ist Patient und Tiefenpsychologe zugleich. So gibt Wagners Musik (vorab durch den Subtext der Leitmotive und ein ungewöhnliches Orchesterkonzept) gleichsam auf dem mythischen Palimpsest der Handlung den Blick in die Abgründe intra- und interpsychischer Prozesse frei. Die Unterwasserwelt als Bild für die im mütterlichen Uterus beginnende Urfrühe menschlicher Ich-Entwicklung, die machtvolle Mutter-Imago, Nibelheim als Ort finsterer Analität, die Walküre insgesamt als spezielle Form der Schuldabwehr, Siegfrieds Vernichtungskampf gegen alles Väterliche und sein regressiver Weg als der eines Anti-Ödipus – aus solchen Symptomen des Bühnengeschehens formt sich auch Wagners innere Konfliktlandschaft. Wagner, der große Untote, hat im Ring sein «Ecce Homo» gefunden. Gesucht wird jetzt eine Inszenierung, die nicht nur den voyeuristischen Blick auf den gläsernen Komponisten lenkt, die vielmehr den Zuschauern die Einsicht vermittelt, dass auch sie im Glashaus sitzen. Ring frei!

Peter Becker