Rodion Shchedrin | Boris Tishchenko

Rodion Shchedrin: Drei Hirten / Die Fresken des Dionysios | Boris Tishchenko: Konzert für Klarinette und Klaviertrio

Verlag/Label: Thorofon CTH 2595
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2013/04 , Seite 81

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 3

Anfangs der russischen Volksmusik zugeneigt, setzte sich der 1932 in Moskau geborene Komponist Rodion Shchedrin in den 1960er Jahren mit modernen westlichen Kompositionsweisen auseinander, bevor er sich auf die großen Themen der russischen Literatur besann und sich zum «Postmodernisten» erklärte. Ein Vorsatz, den die beiden Kammermusikwerke, die das Münchner Ensemble Zeitsprung für sich entdeckte, mit Anmut und Würde einlösen. Die Pastoral-Szene Drei Hirten (1988) atmet die unendliche Weite, die Shchedrin
in seiner Jugend erlebte, wenn er den Hirten an den Ufern der Oka (einem Nebenfluss der Wolga) lauschte. Mittels selbst erfundener Melodien leiteten sie damals ihre Herden beiderseits des Stroms über die Weideflächen. Als wandernde Dialoge kehren diese nun in der Bläserkomposition wieder. In weitester Ferne erhebt eine Oboe ihre Stimme. Während sie allmählich näher kommt, mischen sich – aus anderen Richtungen heranziehend – Flöte und Klarinette ein. Quasi improvisierend finden sie zueinander, antworten einander und turteln umeinander, fädeln sich wieder aus. Nach und nach bringen sie ihr ganzes Charakter- und Bewegungsspektrum ins Spiel.
In die Welt der russischen Orthodoxie führt das Ensemblestück Die Fresken des Dionysios (1981). Diesem Wandbilder-Zyklus des russischen Ikonenmalers Dionissi aus dem Jahr 1502 in der ehemaligen Klosterkirche in Ferapontowo widmete Shchedrin eine Farbklang-Studie auf den Spuren Skrjabins. Der Komponist entwarf ein eigenes syn­ästhetisches Bezugssystem, wonach er Farbtöne in Klänge übertrug. Die verhaltene rituelle Anmut der Figuren, die Wirkung des sanften Farbenspiels im kargen Hallraum der Kirche und die fromme Ehrfurcht des Betrachters schwingen mit in der andachtsvoll zeit-entrückten Wiedergabe des Zeitsprung Ensembles, hier besetzt mit Flöte, Oboe, Klarinette, Fagott, Horn, Crotales, Celesta, Viola und Violoncello.
Eine wahre Entdeckung ist das Konzert für Klarinette und Klaviertrio op. 109 (1990) von Boris Tish­chen­ko (1939-2010), eines hierzulande viel zu wenig bekannten Komponisten ukra­i­nischer Abkunft, der bei Galina Ustwolskaja und Dmitri Schostakowitsch in Leningrad studierte, dessen engster Vertrauter er war. «Ich möchte mich in die Tradition der Kunstentwicklung einreihen und dennoch kein Traditionalist sein», lautete das ästhetische Credo des Petersburger Konservatoriumsprofessors, in dessen Personalstil sich Monothematik und scharfe Kontrastsetzung, zartgetönte Klanglyrik und harsche Stimmungsbrüche zur höheren Einheit fügen.
Bukolisch wie Shchedrins Hirtenmusik, doch geheimnisvoller, entrückter beginnt das «Klarinettenkonzert» von Tishchenko, bevor sich eine arabesk verspielte Kinderszene entfaltet. Der Mittelsatz – ein Perpetuum mobile im Dreiertakt, in dem sich der Komponist als Meister von Kanon und Fuge beweist – erinnert in seiner gauklerischen Bewegtheit an Chagalls Les Arlequins. Der elegische Finalsatz schweift zurück ins entschwundene Paradies einer Kindheit, da Elfen mit Kobolden rangen – ein Traumgesicht, das am Ende ins Unendliche vertröpfelt. Oliver Klenk (Klarinette), Angelika Lichtenstern (Violine), Philipp von Morgen (Violoncello) und Julian Riem (Klavier) versenken sich empathisch in die selige Sehnsucht nach der verlorenen Zeit.

Lutz Lesle