Royal Improvisers Orchestra live at Bimhuis with Han Bennink

Verlag/Label: RioT Impro 01
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2012/06 , Seite 88

Musikalische Wertung: 3
Technische Wertung: 4
Booklet: 3

WIO, LIO, RIO – in Zeiten der Orchesterkürzungen und Zusammenlegung von klassischen Sinfonieorchestern scheinen sie seit einigen Jahren wie Pilze aus dem Boden zu sprießen: improvisierende Orchester. Ein neues Phänomen ist dies gewiss nicht, gab und gibt es doch seit den 1970er Jahren zum Teil bis heute existierende improvisierende Großensembles, die schon in den Frühzeiten der so genannten frei improvisierten Musik den Gedanken einer größeren Instrumental-Besetzung, sei es das klassische Orchester, sei es die Jazzbigband, in der eigenen Disziplin neu zu befragen suchten.
Die Ansätze waren so verschieden wie die ästhetischen Positionen und soziokulturellen Eigenverortungen im Spannungsfeld der Idee einer «freien» Improvisation selbst. Von stilistischen Unterschieden abgesehen reichte die Spannweite von Anarchie (z. B. Scratch Orchestra) über partiell fixierte Kompositionen (z. B. Globe Unity, London Jazz Composers Orchestra) bis hin zu dirigierter Improvisation (Lawrence Butch Morris und London Improvisers Orchestra). Heute ist eine ähnliche Vielfalt zu beobachten. Das WIO ebenso wie das VIO – das Wuppertaler und das Vienna Improvisers Orchestra – etwa arbeiten mit verschiedenen Dirigierzeichen, das James Chioce Orchestra aus Köln spielt speziell für die Musiker komponierte Werke, ÖNCZkekvist, SPLITTER und andere Orchester erproben die freie Improvisation ohne Vorgaben – um jeweils nur Beispiele anzudeuten. Auch das RIO, das in Amsterdam ansässige Royal Improvisers Orchestra, hat sich dem Spiel ohne Vorgaben und ohne Zeichengebung verschrieben.Es wurde 2006 vom Saxofonisten und Klarinettisten Yedo Gibson ins Leben gerufen. Die MusikerInnen zählen zur jüngeren Generation niederländischer Improvisierender. Zunächst wurden Handzeichen zu Hilfe genommen, nun ist das Ensemble eingespielt und improvisiert frei. Der musikalische Background der MusikerInnen ist dabei vielfältig und reicht von Jazz und Klassik über Punk, Rock und Elektronik bis zur Barockmusik. Einige Herkünfte sind in der Musik zu hören, v. a. in kürzeren solistischen Passagen. Jazz: ja, Barock: nein. Verwunderlich? Ja und nein. Ja, denn wenn ein Improvisationsorchester nicht nur einen gemeinsamen Klang findet, sondern einzelne Herkünfte als dem Spektrum der Improvisation zugehörig anklingen lässt – nicht streng idiomatisch, versteht sich, sondern im Kontext einer Orchestertextur, in der sich abstrakte Klangflächen mit groove-basierten Passagen abwechseln, in denen Tutti mit kleineren Besetzungen und begleiteten Soli wechseln –, dann stellt sich die Frage nach etwaigen Konzepten oder Hierarchien nicht nur dynamischer Art, entsteht der Eindruck einer leichten Dysbalance. Barockfagott und Barockvioline etwa sind kaum klangfarblich zu hören, Erinnerungen an die barocke Improvisationstradition, an Klanggebung und Spieltechnik werden vermieden, während Sound und Anleihen an jazzidiomatische Motivik und Phraseologie deutlich zu vernehmen sind.

Nina Polaschegg