Schönberg, Arnold

Sämtliche Lieder

4 CDs

Verlag/Label: Capriccio 7120
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2012/06 , Seite 81

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 5

Als Komplementär zu den Noten-Gesamtausgaben haben sich längst Gesamt-Einspielungen der Werke großer Komponisten eingebürgert, wiewohl öfter beschränkt auf bestimmte Gattungen. Letzteres widerfährt nun auch dem Schöpfer der Zweiten Wiener Schule, der sich nur in jüngeren Jahren der Liedkomposition hingab, es aber auf immerhin 108 Klavierlieder brachte: Arnold Schönberg. Nur eine Liedgruppe wurde leidlich bekannt, wozu Theodor W. Adorno beigetragen haben dürfte, der sie 1959 als schmuckes Inselbändchen herausgab: die Fünfzehn Gedichte aus «Das Buch der hängenden Gärten» von Stefan George op. 15.
Gerade am frühen Liedschaffen Schönbergs wird erfahrbar, dass er ein konservativer Revolutionär war, dessen epochale Neuerungen der Tradition entsprangen. Man braucht gar nicht alle hundert Lieder durchzuhören, die er zwischen 1897 und 1909, also in gerade mal zwölf Jahren, schrieb, um die Fährte seines Fortschritts im Spannungsfeld von Rückbindung und Ausgriff unmittelbar zu erleben.
Und doch: welch ein Sphärenwechsel, welch ein ästhetischer Sprung von den leicht bissigen Sechs Liedern op. 3 (1903) zu dem angespannten Ton des Buchs der hängenden Gärten (1908/09), das sich ohne Geländer im Freiraum der zwölf wohltemperierten Töne bewegt, während sich das romantische Convenu unglücklicher Liebe ganz ins Inwendige zurückzieht (Adorno). Es scheint geradezu, als führe der Verlust der Tonart eine immanente Trauer mit sich. Der Bariton Konrad Jarnot erschließt, getragen von seinem Traumpartner Urs Liska, beide Liedwelten hin- und mitreißend. Wobei die Deutung der George-Lieder einer Offenbarung gleichkommt. Das Klavier-Nachspiel entlässt den Hörer betroffen und sprachlos. Die frühen Lieder lassen erkennen, wie der junge Schönberg von Schumann und Brahms lernt, dessen Geist er aus Zemlinskys Händen empfängt, bevor Wagner und Richard Strauss, schließlich Mahler ihm neue Bahnen eröffnen, wobei die Bindekraft der Funktionsharmonik immer mehr verblasst.
Wie Urs Liska in seinem kenntnisreichen Begleitheft-Text zeigt, verdankt Schönberg drei Dichtern die entscheidenden Schübe seiner reifenden Liedkunst: der pan-erotischen Lyrik Richard Dehmels (Weib und Welt, Zwei Menschen), die auch das Streichsextett Verklärte Nacht inspirierte; dem mythisch schillernden «Gurresange» des dänischen Naturalisten Jens Peter Jacobsen, der die Gurrelieder auslöste (1900/01, hier erstmals in ihren Frühfassungen für Stimmen und Klavier dokumentiert); und der vermeintlich unsangbaren, form­streng gemeißelten Verskunst Stefan Georges, die Schönberg Halt bot in der Schwerelosigkeit der Atonalität.
Neben der Deutung des George-Zyklus, den man anders kaum mehr hö­ren möchte, ist die Ersteinspielung der Gurrelieder in ihrer anfänglichen Gestalt das eigentliche Ereignis dieser CD-Edi­tion. Ihrer Orchestrierung entkleidet – oder richtiger: in der Blöße ihrer Ursprünglichkeit – kommen Schönheit, Dramatik und Meisterschaft des Wechselgesangs zwischen Tove (Me­lanie Die­ner, Sopran), Waldemar (Markus Schäfer, Tenor) und der Waldtaube (Anke Vondung, Mezzosopran) ganz unverstellt zur Geltung.
Das lupenwinzig gedruckte Beiheft enthält sämtliche Texte.

Lutz Lesle