Illés, Márton

Scene polidimensionali IX, X, XV, XVI / Torso II, III

Verlag/Label: WERGO, Edition Zeitgenössische Musik des Deutschen Musikrats, WER 65842
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2012/05 , Seite 89

Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 4
Booklet: 4

«Manische Linien» («Mániákus Vona­lak») – dieser Untertitel der Scene polidimensionali XV treibt einen Grundzug der Musik von Márton Illés ins Extrem: Der für ihn typische, szenisch-gestische Duktus ist hier besonders präsent – in Gestalt von schnellen, heterophon-chorischen, homorhythmischen Läufen, die hektisch kreischend, zuweilen auch leise wispernd durch den Raum schwirren. Auch die Besetzung – sechs Klarinetten nebst Klavier – unterstreicht das Fiebrige dieser Figurationen.
Vieles mag in seinem Werk an den ungarischen Sprachduktus, an die Akzentrhythmik etwa bei Bartók oder Ligeti erinnern, doch wäre es nicht angemessen, die Musik von Illés, 1975 in Budapest geboren, ausschließlich auf ein wie auch immer geartetes «muttersprachliches» magyarisches Idiom zu verpflichten. Denn der ausgebildete Pianist hat zudem Komposition studiert – in Basel und Karlsruhe bei Detlev Müller-Siemens und Wolfgang Rihm. Und sein Zyklus Scene polidimensionali gipfelte mit Folge XVII in einem Stück Musiktheater: in Illés’ Opern-Erstling Die weiße Fürstin 2010 bei der Münchner Biennale.
Die Porträt-CD von WERGO greift nun aus zwei Werkreihen – Scene polidimensionali und Torso – Kompositionen aus den Jahren 2004 bis 2009 heraus, und zwar in einer maßstabsetzenden Wiedergabe durch das Ensemble Modern unter Frank Ollu und Eva Fodor, flankiert von renommierten Solisten. «Kreise», «Ebenen», «Manische Linien» – diese Untertitel verweisen auch auf die räumlichen Dimensionen des gestischen Elements in den Scenes. Speziell Scene polidimensionali XVI, der direkte Vorläufer der Oper, birgt unter dem Beinamen «… Körök» (Kreise) ein verfremdetes, ungarisches Volkstanz-Zitat. Die bizarr erregten chorischen Bläserlinien, beantwortet von gedämpften Schattenbewegungen der Streicher, verstummen hier irgendwann und lösen sich in ruhige, unaufgeregte, nachdenkliche Fragmente auf.
Den bereits erwähnten «Manischen Linien» («Mániákus Vonalak») in Scene polidimensionali XV für sechs Klarinetten und Klavier (hervorragend: das Sextett um den Russen Kyrill Rybakov) setzt Márton Illés selbst – als Piano-Solist – Einwürfe entgegen, die in ähnlich aufgewühlte perkussive Attacken umschlagen. In «Ebenen» («Szin­tek») schließlich, der Scene polidimensionali IX, entfaltet das Ensemble Modern eine hochpräzise, emotional dichte Raummusik in vier Gruppen – neben gezackten Läufen und einer zeitvergessen tastenden Klaviermelodie ragt besonders eine ungarisch konnotierte ferne Traummusik der Holzbläser heraus. Illés’ Liniengeschwirr weist in Torso III gar eine gewisse Nähe zu rasenden Bebop-Unisoni auf.
So lässt sich Illés nervös-überspannte, exzessive, aber auch extrem feinnervige, empfindsame Musik – zwischen schrill insistierender Hektik und traumverlorener Reduktion am Rande der Stille – auch als klingende Reflexion verstehen, als Auseinandersetzung mit einer Welt des Overkills an Reizen und Bedrängungen.

Otto Paul Burkhardt