Cage, John

Solo for Piano

Verlag/Label: Wergo WER 67682
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/02 , Seite 85

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 3

John Cages 1957/58 entstandenes «Solo for Piano» aus dem Concert for Piano and Orchestra hat auch 55 Jahre nach seiner Uraufführung mit David Tudor (Wergo WER 62472) nichts von seiner Faszinationskraft verloren. Zahlreiche Einspielungen (zuletzt von Susanne Kessel bei Oehms Classics) und eine erstaunlich regelmäßige Präsenz auf den Konzertbühnen belegen die Beliebtheit des Werks, in dem Cage die Nichtdeterminiertheit in der Musik – nicht zuletzt durch Anwendung von Zufallsoperationen – auf einen künstlerischen Höhepunkt geführt hat: «Ich betrachte das Werk als eines ‹in progress›, das ich niemals in einem Endstadium zu sehen beabsichtige, obwohl mir jede Aufführung endgültig erscheint.»
Endgültig und, so möchte man hinzufügen, einzigartig, denn der Interpret selbst entscheidet über Auswahl und Reihenfolge der 84 zumeist in suggestiver grafischer Notation festgehaltenen Klangkonstellationen. So ist es eine Großtat des Labels Wergo, die eminente Cage-Pianistin Sabine Liebner nach ihrer Einspielung der Etudes Australes nun auch für die Interpretation des Solo for Piano gewonnen zu haben – in einer eine ganze CD füllenden Version von 69 Minuten und 52 Sekunden Dauer.
Der Enigmatik des Werks begegnet die Münchener Pianistin mit einer von Beginn an einnehmenden Gelassenheit, ja Natürlichkeit. Nicht primär den grellen Kontrasten und fliegenden Wechseln der Extreme ist sie zugeneigt, vielmehr dem changierenden Beziehungszauber der Klang­ereignisse zwi­schen den Stillen, denen sie entwachsen. (Die von Cage unbeschrieben gebliebenen Blätter 15, 32 und 61 kommen, so scheint es, zu ihrem vollen Recht.) Etwas Leichtes, Lichtes liegt über diesem Spiel, etwas bezwingend Atmosphärisches, das nicht selten – zumal in Liebners ausgehorchtem Resonanzkastenspiel – Äolsharfenassoziationen weckt. Vor allem aber sind es die jenseits der herkömmlichen Klangerzeugung angesiedelten Möglichkeiten der Geräuschentfaltung, die Liebner – beherzter und sinnlicher vielleicht als mancher ihrer Vorgänger – mit Einfühlungsvermögen und poetischem Erfindungsgeist zu nutzen versteht. Die Pianistin öffnet gleichsam die Fenster: Man meint raschelndes Laub zu hören, das Rotieren eines Windrädchens, fallende Wassertropfen – eine manchmal fast verspielte Expedition ins Freie, bei der Kunst und Leben zu einer musique en plein air verschmelzen.
Gerade angesichts des exzeptionellen Mitschöpfertums des Interpreten, der im Solo for Piano immer auch Komponist ist, wäre es wünschenswert gewesen, die Pianistin als Autorin auch im Booklet zu Wort kommen zu lassen: über die Faszination, die das Werk für sie hat, zumindest doch über die Beweggründe, die zu ihrer ganz eigenen «Kom-Position» des Materials geführt haben. Und sicherlich wäre auch Michael Rebhahns kenntnisreicher Booklet-Text weniger hermetisch ausgefallen, hätte der Autor die ausgreifenden Einlassungen zu Cages Kunst- und Erfahrungsbegriff etwas reduziert und mehr von den Gründen der Einzigartigkeit einer Einspielung wie dieser – und von der Einzigartigkeit dieser Einspielung selbst – gesprochen.

Rafael Rennicke