Cage, John

Sonatas and Interludes for Prepared Piano

Verlag/Label: WERGO WER 67822
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/05 , Seite 83

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 5

Eine kurze Anekdote vorweg: Als der Komponist Christian Wolff, damals 16 Jahre alt, bei John Cage Unterricht nahm, durfte er eines Nachmittags das Klavier seines Lehrers präparieren und spielen, der im Nebenraum saß und mit etwas ande­rem beschäftigt war. Als Wolff eine Taste anschlug, ertönte zeitgleich ein Schiffshorn. Cage dachte, Wolff habe diesen Klang mit dem Klavier erzeugt. Er war begeistert. So etwas habe er noch nie gehört. Das amüsante Missverständnis wurde schnell aufgedeckt, aber dennoch schwingt in dieser Geschichte eine wichtige Botschaft mit. In der Präparation sah Cage nicht nur die Möglichkeit, das Klavier in ein Schlagzeug zu verwandeln, in erster Linie ging es ihm um das Ungehörte, um eine «Allklangmusik der Zukunft». Beim Musizieren solle der Interpret nicht mehr das Gefühl haben, Klavier zu spielen.
Ein konventionelles Instrument wird in ein Klangmedium verwandelt, das seine eigenen Beschränkungen transzendiert und die Erforschung neuer Sounds ermöglicht. Heutzutage sind diese Klänge natürlich nicht mehr neu. Das präparierte Klavier ist mittlerweile ein beliebtes und bekanntes Instrument, das im­mer wieder in avantgardistischen Kreisen eingesetzt wird, aber auch in der Popmusik Fuß gefasst hat. Man denke zum Beispiel an den Düsseldorfer Pianisten Volker Bertelmann, der unter dem Namen «Hauschka» in seinen melancholischen Kompositionen zwischen Romantik und Experiment in dem Korpus seines Klaviers Pingpongbälle und Schrauben zum Vibrieren bringt.
Auch in Cages Sonatas and Interludes kommen Alltagsgegenstände zum Einsatz. Objekte aus Gummi, Filz oder Plastik werden in den Innenraum des Klaviers gelegt. Cage rezipiert die Sonate nicht in ihrer klassisch-romantischen Tradition, vielmehr versteht er sie buchstäblich, nämlich als Klangstück. Eine Auffassung, die der griechische Pianist und Komponist Antonis Anissegos eloquent umzusetzen versteht. Dazu trägt auch nicht zuletzt die hervorragende Aufnahme bei. Man glaubt, tatsächlich im Innenraum des Klaviers zu stehen und den vibrierenden Objekten zuzusehen. In Anissegos’ Händen werden die Sonaten und Interludien zu einer skulpturalen Musik.
Es sind geometrische Figuren aus Klang mit feinen Gravuren, die sich aus den Lautsprechern zu materialisieren scheinen. Beim Hören betrachtet man sie aus unterschiedlichen Perspektiven und untersucht ihre Konstruktion. Die dynamische Interpretation Anissegos’ vermittelt zudem den Eindruck, die Objekte auch berühren zu können, ihr Material durch die Ohren haptisch zu erfahren. Eine surreale Situation. Dazu passen auch die geheimnisvollen Melodien, die John Cage in die insgesamt zwanzig Stücke eingewoben hat. Mosaikartige Tonfolgen, deren geheimnisvolle Aura etwas Außerweltliches suggeriert.

Raphael Smarzoch