Cage, John

Song Books

Verlag/Label: Sub Rosa SR344
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2013/02 , Seite 81

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 5

John Cages monumentales Soundwerk «Song Books» ist ein Spiel mit den Elementen des Liedes, mit seinen Wortzwischenräumen, wenn der Text pausiert und manchmal, anstelle eines instrumentalen Zwischenspiels, die Stille – als Pause oder als Startpunkt zur nächsten Strophe – sich ausbreitet. Cage komponierte dieses gigantische Opus von August bis Oktober 1970 in Stony Point (New York) und New York City, uraufgeführt wurde es in Paris von den Solistinnen Cathy Berberian und Simone Rist.
«Song Book (Solos for Voice 3-92)» besteht aus zwei Abschnitten: «Song Book I» enthält die Teile 3-58, «Song Book II» die Teile 59-92. Obwohl Cage das Werk als Solo für Stimme konzipiert hat, gestattet er die Aufführung auch mit Begleitung durch nicht festgelegte Musik und nennt als Beispiel «Rozart Mix» und «Concert for Piano and Orchestra». Angelehnt an seine praktizierte Musik des Zufalls gewährt er den Ausführenden eine größtmögliche Entscheidungsfreiheit, indem er die Anzahl der Soli, ihre Reihenfolge und ihre Überlagerung offen lässt. Auch die Zahl der Sänger ist nicht festgelegt; in der hier vorliegenden ersten kompletten Aufnahme agieren Loré Lixenberg, Gregory Rose und Robert Worby.
Eine Person rennt durch eine nicht näher bezeichnete Szene, kaum identifizierbare Geräusche illustrieren das Textmaterial im Stil eines Hörspiels, während eine männliche und eine weibliche Stimme singen, husten, krächzen, rufen. Wie in einer Litanei stehen sich Vorbeter (hier die Stimmen) und Gemeinde (die Geräusche) gegenüber und gestalten in gemeinsamer Regie ein räumlich intensives, imaginäres Theater. Neben 14 einzelnen Songs stehen sieben Mixe, in denen mehrere Solosongs zusammengefasst sind – im «Song Books Mix 1» etwa 18 Positionen in nicht linearer Reihenfolge. «Solo for Voice No. 47» spiegelt den anarchistischen Charakter der gesamten Komposition in herausragender Weise wider: Lixenberg «zersingt» eine Arie, Veränderungen im Umfang und der elektronischen Modulation zersplittern das etwas mehr als drei Minuten lange Stück, das Cage von seiner Komposition «Cheap Imitation No. 4» adaptierte. Theatralische Elemente finden sich in fast allen Soli, vom ungehemmten Lachen bis zum kränklichen Husten, vom Falsett bis zum orgiastischen Grunzen. Phasenweise erinnert das Akustikmaterial an Luigi Russolos Geräuschfamilie.
Cage nutzte vorgefundenes Sprachmaterial, Texte, die er unterschiedlichsten Quellen (von Marshall McLuhan, Marcel Duchamp, James Joyce, Buckminster Fuller u. a.) entnahm. Der überwiegende Anteil stammt von Henry David Thoreau, aus dessen Essay «Über die Pflicht zum zivilen Ungehorsam» Cage das Zitat «Die beste Form einer Regierung ist überhaupt keine Regierung, und eine solche werden wir haben, wenn wir dazu bereit sind» im «Solo for Voice No. 35» verwandte.
Eine Interpretationsanweisung lautet: Verwende die Elektronik, um den Rhythmus zu übertreiben. Wieder­holungen und Überlagerungen dieses einen Satzes konstruieren einen rhythmischen Loop, der «Song Books» in seiner komplexen Gesamtheit zu einem der herausragendsten Beiträge zur Vokalkunst des 20. Jahrhunderts werden lässt.

Klaus Hübner