Jungheinrich, Hans-Klaus (Hg.)

Spuren

Der Komponist Jörg Widmann

Verlag/Label: Schott Music («edition neue zeitschrift für musik»), Mainz 2013, 102 Seiten
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/02 , Seite 94

«Und überhaupt: Jörg Widmann ist ja längst schon woanders.» Das ist kein Seufzer der Resignation, den der Herausgeber stellvertretend für alle Spurensucher auf Seite 7 ausstößt; hier drückt sich vielmehr in prägnanter Kürze der Zauber, aber auch die leise Irritation aus, die dem ebenso opulenten wie vielschichtigen Œuvre des Vierzigjährigen eingeschrieben ist. Ihm war ein Symposion in der Frankfurter Alten Oper gewidmet, das – hier mit einem Podiumsgespräch, sieben Referaten und einer Schlussdiskussion dokumentiert – die Koordinaten von Widmanns musikalischer Poetik bestimmt hat.
Dass dabei mitunter auch hagiografische Obertöne mitschwingen, dürfte vor allem der wahrhaft unerhörten Klanglandschaft geschuldet sein, die Widmann in jedem seiner Werke neu zu vermessen weiß. Der vielfache Composer in residence selbst indessen sieht sich offenbar lieber gut geerdet als auf den Olymp erhoben, wie die Insignien T-Shirt, Bleistift, Klarinette und Mikrofon auf den Fotos belegen. Aber auch in seinem O-Ton lässt sich ein erfrischend irdi­scher Zungenschlag vernehmen, der von der «emphatisch mensch- und weltzugewandten kompositorischen Persönlichkeit» (Siegfried Mau­ser) auch in seinen Werken beglaubigt wird.
Wolfgang Sandner erschließt das Orchesterwerk Implosion (2001) als ein Raumstück über verschiedene Impulse, in dem Widmann die Unvergänglichkeit des Schönen beschwört, während Norbert Abels im ersten abendfüllenden Werk für Musiktheater Das Gesicht im Spiegel dem tönenden Verweis auf die Vergänglichkeit alles Schönen nachgeht. Gerhard R. Koch spürt in Widmanns intensivem Umgang mit Schubert und Schumann «noch andere Gesichter im Spiegel» auf und verweist auf die gleichsam subkutane Vernetzung von Komponisten über die Jahrhunderte hinweg. Ausgehend vom Orchesterwerk Lied und dem Ensemblestück Wandrers Nachtlied bestimmt Jörn Pe­ter Hiekel den historischen Ort von Widmanns Komponieren und seine Stellung im heutigen Musikleben.
Hans-Klaus Jungheinrich legt auf seiner theologischen Spurensuche in der widerständigen Messe für großes Orchester eine Poetik der Skepsis (gleichsam eine Vernetzung des Komponisten mit Samuel Beckett) frei, die Widmann als einen subversiven Composer in resistance ausweist. Wie Messe, so sind auch Lied und Chor für Orchester Projektionen vokaler Formen. Éva Pintér zeigt an dieser orchestralen Trilogie «die Entwicklung einer Melodie per se bzw. die Entwicklung eines Motivs bis zu dessen struktureller Vervielfältigung in Mehrstimmigkeit» auf.
Mausers Notizen zu Widmanns Klaviermusik stellen abschließend zwei Werkbeispiele gegeneinander: Einerseits Lichtstudie III, die die Lichtmetaphorik im Klangprozess (und als dessen Kehrseite den Schatten) zum Gegenstand hat; andererseits Schubert-Reminiszenzen, die als Vorspiel zu Schuberts letzter Klaviersonate B-Dur op. posth. gedacht sind. Mausers Fazit darf für Widmanns Anverwandlung von Tradition insgesamt stehen: «Die kompositorische Persönlichkeit Widmanns […] richtet sich in derartigen Stücken auf Fremdes und Anderes, um Eigenes verschärft hervortreten zu lassen.» Summa: Eine faszinierende Spurensuche und versuchte Nähe zu einem, der ja längst schon woanders ist.

Peter Becker