Goebbels, Heiner

Stifters Dinge

Verlag/Label: ECM New Series 2216
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2012/05 , Seite 84

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 4
Booklet: 4

Eine bizarre, fahrbare Riesenmaschine aus fünf ineinander verkanteten mechanischen Klavieren und kahlem Baumgeäst, eine Schneelandschaft und ein düster brodelndes Moor: das sind die prägenden visuellen Eindrücke einer «performativen Installation» von Heiner Goebbels, die unter dem Titel Stifters Dinge 2007 im Théâtre Vidy-Lausanne ihre Uraufführung erlebte und inzwischen um die halbe Welt getourt ist. Die gut einstündige Erzählung aus Licht, Geräuschen, Stimmen und Klängen kommt ohne Darsteller oder Interpreten aus und läuft als geisterhaft fern- und computergesteuertes, modern und doch archaisch konnotiertes Schau- und Hörspiel ab. Worum geht’s? Zunächst um Adalbert Stifters Text Die Mappe meines Urgroßvaters (1841/42), der in präzisen Beschreibungen die Ungeheuerlichkeit eines vereisten Waldes und einer Sturmkatastrophe schildert. Doch in Goebbels’ Maschinentheater Stifters Dinge geht es um mehr. Um die Welt, um unseren gefährdeten Planeten. Um die Natur, die mit, aber auch ohne Menschen auskommt.
Nun liegt das Ganze in einer Hörfassung vor, mitgeschnitten bei einem Gastspiel in Luxembourg 2007. Was bleibt hier vom Gesamtkunstwerk? Erstaunlich viel. Denn der Wegfall der Optik wird durch die verstärkte Suggestion des akustischen Erlebens kompensiert. Die «performative Installation» wird zu einer Klangreise. Zu einer tönenden Expedition in den Urwald, vorbei an Gesängen der Papua-Indianer (1905 mit einem «Archivphonographen» aufgezeichnet) und bedroht von klopfenden, peitschenden Metallgeräuschen der Klavier-Maschine. «The Wind» heißt diese Passage, und immer klingt neben einer Unversehrtheit auch eine Bedrohung mit durch.
Weiter geht es: «The Trees», «The Rain», «The Thunder». Wir lauschen einem Erzähler, der uns in Stifters Winterwald geleitet. Doch Heiner Goebbels’ Klangcollage verstummt ganz, wenn jenes fremde, unheimliche Eiswald-Geräusch beschrieben wird, «als ob viele Tausend oder gar Millionen von Glasstangen durcheinander rasselten und in diesem wirren Laute in die Ferne zögen». Goebbels illustriert Stifters Text nicht, er weitet ihn assoziativ. «The Rain» beamt uns in eine entschleunigte, surreale Traum-Sphäre aus Natur und Zivilisation, aus leisen, unendlich vielen Plätscherlauten und Bachs schwerelos schwebendem Andante (aus dem Italienischen Konzert), während die Stimme von Claude Lévi-Strauss das Verschwinden unerforschter Räume auf diesem Planeten bedauert. Zu William S. Burroughs’ schamanisch singenden, «letzten» Worten an die Mächtigen dieser Welt tönen bullernde Maschinengeräusche («The Thunder»), bis wir uns wiederfinden – vielleicht in einem Boot auf dem Meer – und die Sirenengesänge griechischer Frauen von der Insel Kalymnos vernehmen («The Coast»). Am Ende versinkt diese Geräuschwelt. Nur noch schwaches Pochen, verwehte Fragmente eines Honky-Tonk-Klaviers. Und Stille.
Dieser Soundtrack einer optisch spektakulären «performativen Installation» ist mehr als ein Nebenprodukt. Ein eigenständig erlebbarer Klangtrip durch Raum und Zeit. Eine Natur-Hörreise zwischen sinnlicher Faszination und lauernder Gefährdung. Und eine subkutan mahnende Reflexion über den Ursprung der Welt und ihre Zukunft.

Otto Paul Burkhardt