Englund, Axel
Still Songs: Music In and Around the Poetry of Paul Celan
Die Sekundärliteratur über den Dichter Paul Celan (1920-70) ist heute selbst für Fachleute kaum mehr überschaubar, und auch zum Thema der Musik in seinen Dichtungen gibt es eine Reihe von Spezialuntersuchungen. Zudem dürfte Celan der neben Bertolt Brecht meistvertonte deutsche Dichter des 20. Jahrhunderts sein, obwohl die von vielen Forschern ihm attestierte sprachliche Musikalität Komponisten eigentlich eher abschrecken sollte das Gegenteil ist der Fall (vgl. dazu meinen Beitrag «Celan» in der 2. Auflage der MGG). Die Themenstellung des Stockholmer Germanisten Axel Englund verspricht also interessante Deutungen schon allein wegen ihrer Unvoreingenommenheit der Betrachtung von einer ausländischen Perspektive aus, also nicht belastet durch deutsche, geschichtlich bedingte Befindlichkeiten.
Celan selbst sagte einst über seine Gedichte: «Diese Texte sind musikalisch gefügt und haben auch ihre musikalische Dramaturgie» (S. 1), doch macht Englund schlüssig klar, dass Celans musikalische Titelungen wie Todesfuge oder Engführung keinesfalls wörtlich, sondern einzig metaphorisch zu verstehen sind; der Dichter kannte sich in musikalischen Dingen gut genug aus, um die Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit dieser auf Dichtungen angewandten Begrifflichkeiten selbst zu einem Moment seines künstlerischen Verfahrens zu machen. Eine «Fuge» ist polyphon, ein Text «monophon», damit fängt es schon an. Celan, so Englund, «never had an innocent attitude to music» (S. 21), die häufigen Musik-Anspielungen bei ihm erscheinen reflektiert, gebrochen; die «Meister aus Deutschland» sind eben nicht nur die großen Komponisten, sondern auch die Täter von Auschwitz, und die Musikalität von Sprache ist ihm gleichermaßen problematisch wie auch produktiv (S. 221).
Textzitate aus Volksliedern oder auch, wie im Gedicht Anabasis, aus Mozarts Kantate Exsultate, jubilate stehen in einem vielsträngigen Bedeutungsumfeld zwischen Reminiszenz und Fragwürdigkeit. Hier liefert Englund nicht nur äußerst subtile und kenntnisreiche Interpretationen einzelner, vor allem weniger bekannter Gedichte Celans, sondern auch sehr detaillierte Analysen ausgewählter Kompositionen und ihres Verhältnisses zum Text. So meiden die Todesfuge-Komponisten Tilo Medek und Harrison Birtwistle gerade die Form der Fuge, während Paul-Heinz Dittrich und Michael Denhoff in ihren rein instrumentalen Werken dem poetischen, aber auch politischen Gehalt der Gedichte nachspüren. Tübingen, Jänner wiederum, das Hölderlin-Gedicht Celans, erfährt durch György Kurtág und Paul-Heinz Dittrich ganz unterschiedliche, gleichwohl die Tiefenstruktur erfassende Deutungen.
Englund führt seine Thesen beispielhaft an ausgewählten Texten und Musiken vor, er vermeidet jeglichen Versuch einer enzyklopädischen Erfassung seines Themas, was in diesem Rahmen auch unmöglich gewesen wäre. Wohl aber leistet er einen willkommenen Beitrag zu den verschiedenen Ebenen seiner Fragestellung der Musik «in und um» Celan, was es dem Leser ermöglicht, eigenständig weiterzulesen bzw. weiterzuhören.
Hartmut Lück