Jungheinrich, Hans-Klaus (Hg.)

Stimmen im Raum

Der Komponist Beat Furrer

Verlag/Label: Schott Music, Mainz 2011
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2012/01 , Seite 90

Dass Komposition (im Sinne reproduzierbarer «Klangschriften») kein antiquiertes Metier darstellt, sondern eine lebendige Form der Gegenwartskunst, daran wird in der edition neue zeitschrift für musik immer dann erinnert, wenn Hans-Klaus Jungheinrich in die Alte Oper Frankfurt lädt, um mit prominent besetzten Teams von Musikwissenschaftlern, Journalisten und Künstlern Protagonisten der neuen Musik in den Blick zu nehmen. Nach Matthias Pintscher, Peter Eötvös, Erkki-Sven Tüür, Kaija Saariaho u. a. war es im September 2010 Beat Furrer, der im Mittelpunkt des traditionsreichen Frankfurter Symposiums stand.
«Stimmen im Raum» – der Titel der Publikation annonciert sogleich die zwei wesentlichen Achsen im ästhetischen Koordinatensystem Furrers: Raum als ein mehrdimensional vernetzter Erfahrungsraum jenseits linearer Darstellungskonventionen (was der Komponist «Erzählung in die Tiefe» nennt); Stimme als unmittelbarer Träger existenzieller Empfindungen, Texte und Subtexte. Insofern wundert es nicht, dass die meisten AutorInnen (nicht ohne zwangsläufige Redundanzen) sich dem für Furrer zentralen Verhältnis von Klang und Sprache annehmen. In einem ertragreichen Abriss über Furrers Bühnenwerke widmet sich Julia Cloot der «Vielfalt der Stimmen» zwischen Singen und Sprechen und ihrer Funktion im komplexen Verfahren der Montage von Textfragmenten unterschiedlichster kultureller Herkunft, die Furrers Arbeiten kennzeichnen, ja auszeichnen. Ähnliche Akzente setzt Éva Pintér, die – vokal und instrumental – der Textbehandlung in Furrers Chorstücken nachgeht, während Marie Luise Maintz eine detaillierte Analyse der «Zeitstrukturen» einiger Instrumentalstücke vornimmt. Dabei macht sie (wie viele andere Autoren hier auch) die Spannung von Bewegung und Statik als elementare Konstante in der Musik Furrers aus – ein «bewegliches Kontinuum», das auch Gerhard R. Koch als zentrales Moment Furrers «mobile-haftem» Klavierwerk zuschreibt.
Seine bisher vielschichtigste Ausformung fand Furrers ganz spezielle Beziehung von Stimme und Klang im «Wüstenbuch». Dessen «Sprachfindung» untersucht Jörn Peter Hiekel in der vielleicht substanziellsten Erörterung dieses Bandes im Umgang mit dem Textmaterial. Hiekel beschreibt die «Polyphonien» und «Sinnformationen» Furrers als dichte Assoziationsräume der Fremdheit und Einsamkeit, wo Sprache in Klang transformiert wird und das Fragmentarische und Unausgesprochene zentrale Bedeutung erlangt. Den semantischen Implikationen eines ganz nach Innen gerichteten Klang- und Erlebnisraums ist auch Max Nyffeler auf der Spur und sieht deren transitorische Qualität vor allem in den Zwischenräumen verortet, im Prinzip der Nichterfüllung und Gleichzeitigkeit des Widersprüchlichen. Ein tendenziell Ungreifbares, das auch Gastgeber Jungheinrich in seinen frei flottierenden Gedanken «Zur Erscheinungsweise der Furrer’schen Musik» als ein faszinierendes «in-between» umschreibt, das sich «nah am Rauschen» bewegt.
Die Schlussdiskussion mit allen Beteiligten hätte man sich ergiebiger vorstellen können. Auch dass Furrers Tätigkeit als Dirigent vollständig ausgeblendet bleibt, ist zwar kein Beinbruch, hätte aber zusätzliche Perspektiven auf den ästhetischen Horizont des Komponisten eröffnet. Dennoch ermöglicht dieser Band einen instruktiven Einblick in die Klangsprache eines der momentan eloquentesten Vertreters avancierter Komposition.

Dirk Wieschollek