Capalbo, Marco

Stravinsky in Hollywood

Filmdokumentation

Verlag/Label: C-major 716404 (Blu-ray), 716308 (DVD) | 54 Minuten
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/05 , Seite 81

Im September 1939 emigrierte Igor Strawinsky in die USA, wie viele andere europäische Künstler in der Hoffnung, in Hollywood ein neues Arbeitsfeld zu finden. Die zahlreichen Auftragsarbeiten für die Filmindustrie waren jedoch ausnahmslos ein Fiasko. Keine fand Verwendung, weil Strawinsky sich den filmüblichen Eingriff in die Partituren verbat. Er bearbeitete sie später für den Konzertsaal. Der Song of Bernadette für einen Film über Lourdes (nach dem Erfolgsroman des ebenfalls nach Kalifornien emigrierten Franz Werfel) wurde zum Mittelstück der Sinfonie in drei Sätzen, die Musik für einen Kriegsfilm über die Kämpfe in Norwegen zu den Norwegischen Impressionen. Das einzige realisierte Projekt, Walt Disneys Fantasia von 1940, kam ohne ihn zustande. Disney hatte Teile des in Amerika urheberrechtlich nicht geschützten Sacre du printemps für seinen Trickfilm über die Entstehung der Erde benutzt. Über die Bearbeitung durch Leopold Stokowski, der die Filmmusik dirigierte, ärgerte sich Strawinsky maßlos, doch sie brachte ihm immerhin die für die damalige Zeit hohe Summe von sechstausend Dollar ein – das Startgeld für seine neue Existenz an der Westküste.
Diese Details über die misslungene Filmkomponistenkarriere sind interessant, doch wichtiger ist, was der Filmautor Marco Capalbo über die weitere künstlerische Entwicklung Strawinskys in der Hollywooder Zeit zusammengetragen hat. In den drei Jahrzehnten, die Strawinsky hier lebte – es war der längste Aufenthalt des kosmopolitischen Komponisten an einem Ort, 1946 wurde er amerikanischer Staatsbürger –, entstand sein gesamtes Alterswerk, hier vollzog sich seine erstaunliche Wandlung zum Reihenkomponisten.
Entscheidende Ereignisse werden im Film ausführlich dokumentiert und kommentiert: das Verhältnis zu dem in der Nachbarschaft wohnenden Arnold Schönberg, das von strikter gegenseitiger Missachtung geprägt war und erst 1951 durch Schönbergs Tod, der Strawinsky tief erschütterte, eine Umwertung erfuhr; die Zusammenarbeit mit dem Choreografen George Balanchine in New York, aus der unter anderem 1957 das Ballett Agon hervorging; und vor allem die Begegnung mit Robert Craft, die für seine restliche Schaffenszeit prägend war. Craft, der Assistent, Gesprächspartner, Dirigent, Promoter und spätere Biograf Strawinskys, kommt auch persönlich zu Wort. Besonders aufschlussreich sind seine Ausführungen zur Nicht-Beziehung zwischen Strawinsky und Schönberg – er arbeitete vorübergehend für beide Komponisten gleichzeitig – und zum tiefgreifenden Wandel von Strawinskys Komponieren, der nicht nur eine technische Angelegenheit war, sondern auch weltanschaulich-religiöse Aspekte umfasste. Der über Achtzigjährige philosophiert noch aus dem Krankenbett heraus mit innerer Heiterkeit über den Glaubenssatz «Credo quia absurdum». Das Thema der Wiedergeburt, das ihn seit dem Sacre lebenslang beschäftigte und in Spätwerken wie Cantata, The Flood und Threni dezidiert christlich, nämlich im Sinne des ostkirchlichen Auferstehungsritus konnotiert ist, nimmt viel Raum ein, zumal es auch seine eigene Lebenspraxis betrifft. Strawinsky hat sich als Komponist und Denker immer wieder neu erfunden. Im Gespräch über seine Variations (1962) sagt er: «Das sind ‹Änderungen› [er benutzt dabei das deutsche Wort] wie bei Bach. Die Goldberg-Variationen sind ‹Änderungen›, und ‹anders› bedeutet ‹something other›. Change! Change!»
Die Dokumentation ist etwas wortlastig. Der Off-Kommentar ist informativ, läuft aber manchmal beziehungslos neben allgemein gehaltenen Bildern einher. Das mag damit zu tun haben, dass das Bildmaterial besonders für die ersten Jahre in Amerika eher dürftig ist; kompensiert wird das mit nachgestellten Szenen an den kalifornischen Originalschauplätzen. Insgesamt gibt der Film aber einen aufschlussreichen und stellenweise fesselnden Einblick in die Gedankenwelt dieses letzten musikalischen Jahrhundertgenies, das sich auch einen Ausspruch wie diesen leisten konnte: «Die Kritiker können nicht über mich urteilen. Ich bin nicht nur bedeutender als sie, ich weiß es auch besser.»

Max Nyffeler