Schlumpf, Martin

Streams

Mouvements / Waves / Streams

Verlag/Label: Navona Records NV 5918
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/01 , Seite 83

Musikalische Wertung: 3
Technische Wertung: 3
Booklet: 3

So klingt Postmoderne! Changierend zwischen sinfonischer Opulenz, sattem Bigband-Sound und repetitivem Minimalismus treiben synkopierte Ostinato-Modelle unter ekstatischen Aufwallungen in der Art von Ravels Bolero einem eruptiven Höhepunkt zu. In den 1920er Jahren wäre solch beschwingte Spielmusik der letzte Schrei gewesen. Im lyrischen zweiten Satz der vier Mouvements for piano and orchestra (1994/99) des Schweizer Kom­ponisten und Jazz-Musikers Martin Schlumpf weicht ein zartes Flöten-Solo bald zunehmender Unruhe, die in den perkussiven dritten Satz weitertreibt, der Jazz-Gesten und vitalistische Motorik mittels harter Schnitte in Strawinsky-Manier montiert. Der letzte Satz schließlich entfaltet prachtvoll glitzernde Minimal Music, die am Ende jedoch plötzlich vertröpfelt und von einer Windmaschine verweht wird: Gone with the wind.
Der 1947 in schweizerischen Aarau geborene Schlumpf begann seine Musikerlaufbahn als Kontrabassist in diversen Jazz-Formationen, bevor er Klarinette, Klavier, Dirigieren, Musiktheorie und Komposition in Zürich studierte, dort bei Rudolf Kelterborn sowie in Berlin bei Boris Blacher. Seit 1977 lehrte Schlumpf selber als Professor für Musiktheorie und Gruppenimprovi­sation an der Zürcher Hochschule der Künste. Seine Nähe zur Praxis und speziell zum Free Jazz – bis heute spielte er in verschiedenen Jazz-Ensembles – zeigt sich am deutlichsten im Doppelkonzert Streams. Das siebensätzige Stück entstand 2010 für die Improvisationskollegen und Musikerfreunde Matthias Müller (Klarinette) und David Taylor (Bassposaune), die längere Passagen frei gestalten dürfen, im Gegensatz zum ausnotierten Part des 17-köpfigen PARMA Orchestra unter Leitung von John Page, einem sich selbst tragenden freien Zusammenschluss aus dem US-Bundesstaat New Hampshire.
Interessant ist zu Beginn des 2002 entstandenen Waves die rücksichtslose Heterophonie von typisch «schmachtendem» Solo-Violoncello und ungebremst dazu schmetternden Trompeten-Fanfaren. Die Instrumente spielen ihre Charakterrollen bis an den Rand der Selbstparodie und schaffen durch ihre Kollision eine unerwartete Spannung, die sich in den nachfolgenden vier Sätzen allerdings wieder in unverbindliche Jazz-Anklänge und leerlaufende Virtuosität verliert. Für Überraschung sorgt gelegentlich ins Streichorchester eingeblendete Elektronik, als würde der für sich genommen organische Ensembleklang plötzlich hyperbolisch schillernde Blasen werfen. Berechenbar dagegen ist bei diesem wie den anderen beiden Instrumentalkonzerten der in Stille verhauchende Schluss. Als bloßer Effekt will ein solches Ende nicht recht zur quirligen Umtriebigkeit der Stücke passen, es sei denn der Komponist wollte damit sagen: Nehmt diese postmodernen Spielereien nicht zu ernst, sie sind nur Echos von vorgestern.

Rainer Nonnenmann