Langgaard, Rued

Streichquartette Vol. 1

Streichquartette Nr. 2 BVN 145, Nr. 3 BVN 183, Nr. 6 BVN 160 / Variationen über «O Haupt voll Blut und Wunden» BVN 71

Verlag/Label: Dacapo 6.220575
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2012/05 , Seite 86

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 5

Der dänische Komponist Rued Langgaard (1893-1952) hat es leider nie geschafft, sich aus dem Schatten seines berühmten «Gegenspielers» Carl Nielsen zu lösen. Doch die Tatsache, dass Langgaard von vielen seiner Zeitgenossen als eigenbrötlerischer Sonderling betrachtet wurde, darf nicht über die herausragende Qualität vieler seiner Werke hinwegtäuschen, auch wenn sie im übrigen Europa kaum rezipiert werden. Dass Langgaard in den 1960er Jahren auch als Wegbereiter der neuen Musik erkannt wurde, geht auf die Geistesgegenwart seines Landsmannes Per Nørgård zurück, der seinem Komponistenkollegen György Ligeti die Partitur von Langgaards Sphärenmusik aus dem Jahr 1919 präsentierte, in welcher dieser die Clustertechnik verwendet. Ligeti soll sich laut Nørgård anschließend vor versammelter Mannschaft als «Vorläufer von Langgaard» bezeichnet haben. Die vorliegende SACD mit einer repräsentativ und klug zusammengestellten Auswahl von Arbeiten aus Langgaards umfangreichem Quartettschaffen lädt eindringlich dazu ein, einen faszinierenden und zu Unrecht ins Abseits gedrängten Tonsetzer von seiner kammermusikalischen Seite her neu zu entdecken.
Die vier jungen Damen vom dänischen Nightingale String Quartet finden in der Aufnahme von Anfang an den richtigen Ton. Spürbar leidenschaftlich und bis zum letzten Takt inspirierend nähert sich das Ensemble der Mu­sik seines genialischen Landsmannes an. Tatsächlich hätte Langgaard keine besseren Fürsprecher finden können als die bereits mit Preisen überhäuften «Nachtigallen», die in Dänemark den Status eines hochdotierten Nachwuchsensembles genießen. Das Quartett findet den Schlüssel zu Langgaard und präsentiert die Werke ebenso intellektuell und konzentriert wie leichtfüßig und leuchtend – und das bei lupenreiner Aufnahmetechnik und einwandfrei austarierter Akustik. Dank des gelungenen Cover-Artworks gesellt sich zum akustischen Genuss auch noch der optische hinzu.
Auch wenn Langgaards Streichquartette nicht so weit in die Avantgarde-Musik der Nachkriegszeit vorausweisen wie seine Sphärenmusik, zeigen sie doch einen sehr klang- und formbewussten Komponisten auf der Höhe seiner Zeit, der die Gattung Streichquartett als Königsdisziplin begreift und dementsprechend in sich geschlossene Meisterwerke schreibt, die in ihrer faszinierenden Mischung aus romantischen, neoklassischen und expressiven Elementen den Vergleich zu anderen zeitgleich in Europa entstandenen Quartetten nicht zu scheuen brauchen. Das gilt vor allem für das weitgehend dissonante Streichquartett Nr. 3 aus dem Jahr 1924 als auch für das sechs Jahre früher entstandene Quartett Nr. 2, dessen programmatische Satzüberschriften wie «Sturmwolken» oder «Landschaft im Zwielicht» nicht darüber hinwegtäuschen sollten, dass es sich hier gleichwohl um ab­solute Musik handelt. Vor allem der zweite Satz dieses Quartetts mit der Überschrift «Durchfahrender Zug» hat es in sich, da er die Eisenbahngeräusche weniger imitiert, sondern vielmehr in eine autarke rhythmische Bewegungsenergie übersetzt, die sich weitgehend vom «Programm» löst. – Diese fantastische CD macht auf ganzer Linie Lust auf Langgaard.

Burkhard Schäfer