Henze, Hans Werner

Symphonies 1 & 6

Verlag/Label: Wergo WER 67242
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/01 , Seite 84

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 5

Mit der Ersten und Sechsten nähert sich die Gesamteinspielung der Sinfonien von Hans Werner Henze mit dem RSO Berlin unter seinem künstlerischen Leiter Marek Janowski ihrer Vollendung. Jetzt fehlen nur noch die Zweite und Zehnte (die nach Auskunft des Labels im Frühjahr folgen werden).
Die vorliegende Edition bietet die 1. Sinfonie mit dem Titelzusatz «für Kammerorchester» und die Sinfonia Nr. 6 in ihrer jeweils letztgültigen Gestalt. Beide Werke gelten als Schmerzenskinder des Komponisten. Die Urfassung der Ersten entstand noch während der Studienzeit bei Wolfgang Fortner. Dieser brachte sie 1948 vollständig zur Uraufführung, die laut Henze «einen Eindruck von Zerrissenheit» hinterließ. Als 1963 eine Gesamtaufführung seiner inzwischen fünf Symphonien mit den Berliner Philharmonikern in Aussicht stand, nahm sich Henze das Werk wieder vor. Dabei verkürzte er es auf drei Sätze, ließ das «Notturno» aber ungeschoren. Die Umarbeitungen der Ecksätze kamen einer Neukomposition gleich, wobei «rhythmische, harmonische und melodische Zellen aus der Urfassung» erhalten blieben, wäh­rend das «Scherzo» in die Variationen des Finalsatzes einging.
Zum «Notturno» schrieb Heinz Joachim nach der Uraufführung in der Welt, über ihm liege «ein Hauch von Hölderlins ‹heiliger Nüchternheit›». Eine hellsichtige Bemerkung angesichts der Tatsache, dass Henze 1984 tatsächlich eine «Hölderlin-Sinfonie» schrieb («tagsüber das heilig-nüchterne Wasser komponiert, in das die holden Schwäne ihre Häupter tauchen»). Wissend oder intuitiv nähert sich Marek Janowski schon in der Ersten, die Henze 1991 letztmals revidierte, jener Aura heilig-nüchterner Trunkenheit, die Hölderlins anti­thetisches Gedicht Hälfte des Lebens durchtönt und bindet.
In eine gänzlich andere Welt führt die Sechste, komponiert für «zwei in ständiger Korrespondenz miteinander liegende Orchester» (1969, rev. 1994). Sie entspringt Henzes zweimaligem Aufenthalt auf der Insel Fidel Castros, dessen sozialistische Revolution er damals bewunderte. Die Sinfonie habe einen «heidnischen Corpus», notiert er in seinem Lebenserinnerungen Reiselieder mit böhmischen Quinten, ihr Pulsschlag und ihr Blutdruck seien «schwarz» – dank der my­thologisch zu verstehenden Rhythmik der Kubaner, die er sich zu eigen gemacht habe. «Das Neuartige am Stück» sei die Einbindung zeitgenössischer wie auch zeitloser Folklore in die musikalische Konstruktion.
Im Kopfsatz fallen zwei Liedzitate auf: Sterne der Nacht der vietnamesischen Befreiungsfront und die «Freiheitshymne» des damals eingeker­kerten griechischen Musikers Mikis Theodorakis. Der Mittelsatz spiegelt die gegensätzlichen Gemütsbewegungen des Gedichts Druckfehlerliste von Miguel Barnet (Kuba). Im Finale um­armen Kunst- und Volksmusik einander: Ein «unfreundlicher Freudentanz» schaukelt sich auf, bei dem die Schlaginstrumente «in das freie Spiel um den rhythmischen Cantus firmus des kubanischen Nationaltanzes, des Son, ausbrechen». Der Schweiß, den Henze diese Partitur kostete, lässt das RSO Berlin unter Marek Janowski gänzlich vergessen.

Lutz Lesle