Pettersson, Allan

Symphonies Nos. 4 & 16

Verlag/Label: SACD + DVD, BIS 2110
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2015/01 , Seite 86

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 3

«Wer zum Teufel ist Allan Pettersson?» lautet der Titel eines Interviews, das 1974 fürs schwedische Fernsehen entstand. Christian Lindberg, der es sich als Chef des Nordnorsk Symfoniorkester und konzertierender Posaunist nicht nehmen lässt, die Gesamteinspielung der Symphonien Petterssons mit dem Symfoniorkester Norrköping bei BIS Records zu Ende zu führen, hatte die famose Idee, es der vorliegenden Edition als Bonus-DVD beizufügen. Das Interview (Länge: 50 Minuten, mit englischen Untertiteln) gibt der Musikwelt erstmals Gelegenheit, den großen Sinfoniker des Nordens «leibhaftig» zu erleben. Noch 1993 hieß es in einer Broschüre des schwedischen Musikinformationszentrums: «Seine eigentümliche Persönlichkeit mit ihrer lebhaften und abgehackten Rede, sein proletarischer Hintergrund und seine chronische Arthritis schufen das Bild eines tragischen, missverstandenen Genius.»
Wer also war Allan Pettersson? 1911 im Län Uppsala geboren, wuchs er in einem Stockholmer Arbeiterviertel auf. Nach mehreren Anläufen ins Königliche Musikkonservatorium aufgenommen, brachte er es als Bratscher zur Podiumsreife und wurde Mitglied der Stockholmer Philharmoniker. Zugleich nahm er Privatstunden in Kontrapunkt und Komposition. 1950 ging er für zwei Jahre nach Paris, um mit Arthur Honegger und dem Webern-Schüler René Leibowitz zu arbeiten, der ihn in die Zwölftontechnik einweihte. Mit der er sich aber nicht anfreunden konnte, weil sie «das Spannungsfeld zwischen Dissonanz und Konsonanz» preisgab.
Seinen sinfonischen Personalstil, von harschen Kontrasten gezeichnet, entwickelte er in den 1960er Jahren. Während eines neunmonatigen Krankenhausaufenthalts vollzog sich 1970 der Wandel zum geklärten, doch unvermindert «kontrastgetriebenen» Spätwerk. In seinem Land sowohl geehrt als auch angefochten, starb Pettersson 1980 in Stockholm.
Schroffe Klangballungen, abge­löst von choralartigen oder liedhaften Partien, eine labile Balance grimmiger und friedvoller Erzählmomente prägen die 1959 vollendete vierte Symphonie in einem Satz. Während dem Komponisten damals, als die Wortführer der «nutida musik» das tonale System totsagten, «Dreiklangsbanalität» vorgehalten wurde, wirkt die 37-minütige Symphonie heute – im unverstellten Deutungshorizont Lindbergs und seiner Getreuen in Norrköping – eher als Offenbarung eines unabhängigen Geistes auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Samt Kindheitserinnerungen an die frommen Lieder der Mutter.
Was im Grunde auch für Pet­terssons sechzehnte und letzte Sym­phonie von 1979 gilt. Nur dass ihre Kontrastdramaturgie – frenetisch erregte Partien wechseln mit romantisch verklärten Ruhezonen, die von fern an Schubert erinnern – entschiedener auf Analogie und Ausgleich bedacht ist. Das knapp zehn Minuten kürzere Spätwerk wirkt ausgeglichener, reifer, farbenreicher, manchmal geradezu musikantisch, mit leichtem Swing. Wozu das solistisch behandelte Altsaxofon – die Symphonie war dem amerikanischen Saxofonisten Frederick Hemke zugedacht – durchaus beiträgt, wiewohl es sich virtuoser Selbstdarstellungen und Schlagabtäusche mit dem Orchester enthält.

Lutz Lesle