Henze, Hans Werner
Symphony 9 für gemischten Chor und Orchester
Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 5
Repertoirewert: 4
Booklet: 5
Gesamtwertung: 4
Bei einer 9. Symphonie, zumal mit Chor, fällt es schwer, nicht an Beethoven zu denken. Hans Werner Henze bedient sich in seiner «Neunten» des klassischen Modells als Kontrastfolie: Wo sich Beethoven mit Schillers Ode an die Freude zur finalen Klimax emporschwingt, ist bei Henze von Freude keine Spur. Bis auf kurze Passagen ist der Chor bei ihm ständig präsent. Textgrundlage bildet Das siebte Kreuz von Anna Seghers. Allerdings erzählt der Librettist Hans-Ulrich Treichel den Roman nicht nach, sondern lässt, durchweg in der ersten Person, aber aus wechselnder Perspektive, einzelne Szenen aufscheinen. Bis auf den Artisten Belloni im fünften Satz ist nicht wirklich klar, wer spricht. Es ist auch nicht wichtig. Das «Ich» lädt zur Identifikation mit dem KZ-Flüchtling ein, der in ständiger Lebensgefahr schwebt und im zweiten Satz «Bei den Toten» bereits «hinübergegangen» ist.
Henze reflektiert diese changierende Perspektive: Ein gehetzter Rhythmus, der sich auf schrillen Höhepunkten kurz unterbricht, macht die Atemlosigkeit und die Angst des Flüchtenden spürbar, bis hin zur wörtlichen Illustration des Herzklopfens durch Paukenschläge. Massive, vorwärtstreibende Blechbläser und Trommeln bezeichnen zugleich die «schwarzen Stiefel» der Verfolger. Dieser Dramatik stehen stille, sinistre Passagen gegenüber, in denen der Flüchtende sich in Gedanken verliert, sich bereits tot wähnt oder die Toten selbst sprechen. All dies wird in den folgenden Sätzen im Einzelnen expliziert. «Ich träume die Träume des Baums», heißt es im Kopfsatz, während der vierte Satz die doppelte Perspektive der gefällten Platane und der Täter gekonnt miteinander verschränkt. Henze positioniert sich freilich eindeutig auf der Seite der «Helden und Märtyrer des deutschen Antifaschismus»: Mit knapp zwei Minuten fällt der «Bericht der Verfolger» eher knapp und eindimensional aus.
Umso ausführlicher folgt auf den Wendepunkt im fünften Satz, als sich der Artist Belloni in die Tiefe stürzt, die mehr als 16 Minuten lange «Nacht im Dom». Wie in der Siebenzahl der Sätze klingt hier mit schweren, scharfen Orgelklängen eine religiöse Dimension an, oder besser deren Negation. Auf den Anruf «Gib Antwort» bleibt der Gekreuzigte stumm nach einer jähen Pause heißt es nur: «ich höre dich nicht». Marek Janowski steuert das Berliner Rundfunk-Sinfonieorchester und den Rundfunk-Kammerchor sicher durch die vielen Register von Henzes versierter Tonkunst. Der siebte Satz «Die Rettung» vollzieht schließlich in den warmen Tönen von Horn und Holzbläsern eine überraschende Wendung zu einem beinahe romantischen Landschaftsbild, dem freilich die vorangegangenen Schrecken noch in den Knochen stecken.
Dietrich Heißenbüttel