Kröll, Georg

Tagebuch für Klavier

Verlag/Label: telos TLS 119 (2 CDs)
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2013/02 , Seite 84

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 5

Wer Gedichte mag, auch wenn sie den Reim verschmähen, wer Sinn hat für Distichen, lyrische Kürzel, Versfragmente – der wird sich im «Tagebuch für Klavier» von Georg Kröll auf Anhieb zuhause fühlen. Der Komponist hängt entschieden der Idee der offenen Form an. Was nicht heißt, dass er dem Zufall Tür und Tor öffnet. Oder dem Interpreten die Verantwortung für die Werkgestalt abtritt. «So sehr Kröll im Großen und Formganzen Unbestimmtheit und Offenheit favorisiert, im Einzelfall geht es um ausführungspraktische Klarheit, Eindeutigkeit», bekräftigt Georg Beck im Beiheft.
1934 in Linz am Rhein geboren, studierte Kröll Klavier und Komposition (bei Frank Martin und Bernd Alois Zimmermann) in Köln. Über ein Vierteljahrhundert lehrte er Komposition und Musiktheorie an der Rheinischen Musikschule. Als Interpret am Klavier trat er früh für die Musik der Gegenwart ein. Mitte der 1980er Jahre gab er das professionelle Tastenspiel auf, um den Kopf freizumachen für ein grö­ßeres Klavierwerk. Was indes nicht so recht gelingen wollte. Entwürfe zerfielen ihm immer wieder in Kleinteile. Da kam ihm der Dichter Elias Canetti zu Hilfe. Dessen Tagebuchaufzeichnungen «Das Geheimherz der Uhr» inspirierte ihn, Materialblöcke aus dem strukturellen Gesamtzusammenhang zu lösen und dem Einzelstück besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Dem 1987 erschienenen Buch entsprang «der Impuls für eine Komposition, die im Detail minutiös ausgearbeitet ist, als Gesamtwerk [aber] fragmentarisch bleibt».
Was lyrikvertraute Ohren mitnichten stört. Noch Kunstfreunde befremdet, die etwas anzufangen wissen mit Informel und lyrischer Abstraktion, rhythmisch schwingenden Farbfeldern und Liniengeflechten. Wer den Prozess-Charakter in Ueckers Nagelbildern spürt oder in verwitterten Mauern und As­phaltkrusten Dubuffets Metaphern menschlicher Existenz gewahrt, dem erschließen sich auch die versprengten, wie aus dem Unterbewusstsein aufsteigenden «Tagebuch»-Eintragungen Krölls, deren Urbilder wohl in Schönbergs Klavierstücken op. 19 zu suchen sind. Ihre Grundtöne entlehnte er allerdings der Zwölftonreihe und ihren Permutationen aus dessen «Suite für Klavier» op. 25.
Ein weites Feld sind die Titel der teils nur sekundenlangen Miniaturen. Öfter begnügen sie sich mit Tempoangaben wie «Viertel = 92» oder «Tempo de valse». Oder sie firmierten schlicht «ohne Titel» (wie manches Bildwerk der Moderne). Mit György Kurtág, dessen Klavier-Spiele «Játékok» gleichfalls eine offene Werkreihe bilden, teilt Kröll die Vorliebe für tönende Nachrufe oder Geburtstagsgrüße, Botschaften ad nominem (so an Frank Martin, Bernd Alois Zimmermann, Olivier Messiaen, Helmut Lachenmann, Hans Zender, Klaus Hu­ber). Unter den «angespielten» Größen der Musikgeschichte finden sich Guillaume Dufay, Girolamo Frescobaldi und Mozart. Mal fesselt die vertrackte Mechanik eines Stücks, die an Ligetis Etüden denken lässt, mal ein uhrwerkartiges Perpetuum mobile. Mal glaubt sich der Hörer an verrufener Stelle, mal meint er im Nebel zu wandern …
In Udo Falkner fand Kröll einen Treuhänder im wahrsten Sinne des Wortes. Die 250 manuell teils äußerst komplizierten «Tagebuch»-Seiten gehen ihm mit erstaunlicher Leichtigkeit von der Hand.

Lutz Lesle