Tai Murray – 20th Century: The American Scene

Werke von Aaron Copland, Elliott Carter, John Cage und John Corigliano

Verlag/Label: eaSonus EAS 29253
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/05 , Seite 87

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 4
Booklet: 3

Die amerikanische Kompositionsszene des 20. Jahrhunderts ist hierzulande eher eine terra incognita. Da sind die besten Interpreten eben recht. Tatsächlich übertreibt die New York Times nicht, wenn sie die afroamerikanische Geigerin Tai Murray «superb» findet, noch das Beiheft, das ihre unangestrengte Spielweise, ihren feinen Bogenstrich und ihr dezentes Vibrato der «Schule» eines Josef Gingold und Jascha Heifetz zugute hält. Auch Ashley Wass am Flügel erfüllt höchste Ansprüche.
Ihr Recital beginnt mit der Duo-Sonate, die Aaron Copland (1900–90) in den Kriegsjahren 1942/43 schrieb. Wie sein jüngerer Landsmann Elliott Carter war Copland Schüler der Pariser Komponistenmacherin Nadia Boulanger. Von Strawinsky und der französischen Avantgarde der 1920er Jahre berührt, prägen klare Formen, Polyrhythmen, Ostinati, spröde Melodik und Reizdissonanzen seine zuweilen etwas dürren Texturen. Auf der Suche nach einem genuin amerikanischen Tonfall studierte er Jazz-Idiome, Cowboylieder, Quäker-Melodien, Volksweisen aus Neuengland. Besonders Letztere finden ihren Widerhall in der Violinsonate. Der floskelhafte Kopfsatz und der gemäch­liche zweite klingen simpel, spiel­dosenartig. Sogar das tanzbewegte Finale endet schlicht und entsagend. Ein kanadischer Kollege nannte die Sonate «ebenso raffiniert wie verwirrend in ihrer Einfachheit, ihrem Understatement und ihrer Stein-artigen Syntax» (gemeint sind die assoziative Erzählweise, die Satzteil- und Wortwiederholungen der Schriftstellerin Gertrude Stein).
Obwohl seine Musik intellektuell anmutet, erreichte Elliott Carter (1908– 2012) schon in den 1940er Jahren in den USA Popularität. Nach anfäng­lichem Literaturstudium hatte ihn Ives zur Komposition bekehrt. Seit 1953 bediente Carter sich auch serieller Verfahren. Im Zyklus Four Lauds for Solo Violin (1984– 2000) trauert er um seine Kollegen Copland, Petrassi und Sessions: Statement – Remembering Aaron (1999), Riconoscenza per Goffredo Petrassi (1984), Rhapsodic Musings (2000) und Fantasy – Remembering Roger (1999). Mit dezenter Innigkeit versenkt sich Murray in die latent mehrstimmigen, vornehmlich elegisch gestimmten Miniaturen. Allein die Erinnerung an Roger Sessions bringt die Violine in Aufruhr.
John Cage, der sich in die Hindu- und Zen-Philosophie vergrub, befreite die Musik bekanntlich von solcherlei Absichten und Anwandlungen des Autors, indem er sein Schöpfertum an Zufallsspiele oder die Interpreten seiner Werkkonzepte abtrat. Die fahlen Mosaiken der Six Melodies for Violin & Piano (1950) generierte er mit Hilfe der Gamut-Technik (Arbeit mit Klangbild-Sequenzen). Vorzutragen «senza vibrato» und mit minimalstem Bogendruck.
Eine volle Drehung rückwärts in die (spät-)romantische Ausdruckswelt vollführt John Corigliano (*1938) in seiner Duo-Sonate von 1963. Mit allen Wassern neuzeitlicher Kompositionskunst gewaschen, schuf der (an der Juilliard School lehrende) Maestro eine geistsprühende, an klassischen Formmodellen ausgerichtete Sonate – samt Solokadenz im Lento-Satz. Das virtuose Rondo-Finale, ein polytonal-polyrhythmisches Perpetuum mobile, zehrt variierend und kombinierend von eigener Substanz.       

Lutz Lesle