The Mythic Flute – Carin Levine

Werke von Brian Ferneyhough, Toru Takemitsu, Claude Debussy, Klaus Hinrich Stahmer, Keiko Harada, Trevor Baca und Luciano Berio

Verlag/Label: musicaphon 55721
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/01 , Seite 86

Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 4
Booklet: 3

Wie auf ihren älteren CDs mit Musik für Soloflöte – Flöten ohne Grenzen (1998) und The Flute Experience (1999) – beleuchtet Carin Levine mit ihrer neuesten Produktion die jüngere Geschichte der unterschiedlichen Flötentypen aus einer ganz bestimmten Perspektive. Als Leitidee benennt sie im Booklet die «mythischen Themen und Affekte», die «in der Geschichte der Flöten­literatur immer zahlreicher» wurden und daher für viele Komponisten «bei der Auswahl des thematischen Materials» eine wichtige Rolle spielen.
Verständlich, dass Carin Levines Blick daher auch auf die klassische Moderne fällt und die Flötistin mit Debussys Syrinx (1913) gleichsam die «Urszene» dieses Bezugs zur Idee des Mythischen einbezieht. Indem sie dieser von ihr mit rhapsodischer Freiheit dargestellten instrumentalen Klage jüngere Werke gegenüberstellt, macht sie auf vielerlei offensichtliche oder unterschwellige Bezüge aufmerksam. So akzentuiert sie beispielsweise Toru¯ Takemitsus starke kompositorische Affinität zu Debussy bei der Interpretation von dessen Air (1996) durch dezidierte Hervorhebung ähnlicher Motivik, während sie bei der mit dem Mythischen nur schwer in Verbindung zu bringenden Sequen­za I (1958) von Luciano Berio immerhin Gemeinsamkeiten in musikalischer Haltung und Zeitgestaltung herausarbeitet (wobei der Hörer hier leider nicht erfährt, ob Levine ihrer Wiedergabe den ursprünglichen oder den später überarbeiteten Notentext zugrunde legt).
Komplexe, in kompositorische Verfahren transformierte Bezugnahmen auf mythische Gestalten finden sich hingegen in Brian Ferneyhoughs Flötenwerken Mnemosyne (1986, im Dialog mit den zugespielten Klängen von acht zuvor aufgenommenen Bassflöten) und Sisyphus Redux (2010, als einkomponierte Bemühung um ein unerreichbares Ideal), deren extreme Anforderungen Levine in konzentriertem, bisweilen sogar extrem ruhigem Duktus umsetzt.
Überhaupt fällt die über weite Strecken ruhige Haltung der Veröffentlichung auf, aus der dann bestimmte Kompositionen aufgrund bestimmter Eigenschaften besonders herausragen. So wirkt Keiko Haradas Bone++ (2000) samt dem – laut Levine – darin liegenden Versuch, eine Art «Verwandlung» beim Interpreten hervorrufen zu wollen, zunächst ein wenig trocken, offenbart aber bei mehrmaligem Hören auf Mikroebene eine Fülle spannender und dynamisch detailreich dargebotener Momente. Trevor Bac?as C?áry (2004/06) wiede­rum lebt ganz aus dem Aufbau von Spannungen zwischen Atem und durch Sprechen ins Instrument erzeugten Klängen. Schließlich entwirft Klaus Hinrich Stahmer in Kumanyayi (1994/2010) unter Verwendung zugespielter Naturklänge sowie durch Spielanweisungen wie Sprechen und Fußstampfen eine artifizielle, in man­chen Momenten jedoch auch etwas naiv wirkende Annäherung an die Idee eines mythischen Gesangs. Bei alldem überzeugt Levine durch einen differenzierten Zugang zu den von ihr ausgewählten und geschickt zu einem großen Spannungsbogen gruppierten Kompositionen.

Stefan Drees