Heinen, Christina M.
«Tief in Neukölln»
Soundkulturen zwischen Improvisation und Gentrifizierung in einem Berliner Bezirk
Pierre Bourdieu, Clifford Geertz, Michel Foucault: dem relativ Eingeweihten sagt das Trio etwas. Um theoriefreudige Autoren handelt es sich, um große Denker, die für einen transdisziplinären Zugriff stehen. In einer illustren Gemengelage aus musikästhetischen, soziologischen und ethnologischen Erwägungen bewegt sich also die Autorin Christina M. Heinen. Ihrem ehemaligen Wohnort, dem Berliner Bezirk Neukölln, hat sie sich als «musikethnologische Feldforscherin» zugewandt. Zwischen 2008 und 2010 sammelte sie auf der «Mikroebene» unzählige Interviewpartner, um Handlungs- und Verhaltensweisenweisen so genannter «Akteure» auf die Schliche zu kommen.
Man muss wissen: Berlin ist hip. Somit auch betroffen von jener Gentrifikation, die schon andere Bezirke im Eiltempo veränderte. Prenzlauer Berg, in den frühen 1990er Jahren noch hochtouriger Motor experimentierfreudiger freier Szenen, dient nun als Befrieder familiärer Bedürfnisse. Davon zu Recht abgeschreckte Künstler können und konnten dortige Mieten nicht mehr bezahlen. Sie zogen weiter: nach Friedrichshain oder auch nach Kreuzberg, das, zumal in der Nähe des schönen Maybach-Ufers, auch nicht mehr das billigste ist. Bleibt also Neukölln, das, so der Eindruck nach der Lektüre, aber auch schon «lädiert», also ins Visier einer zahlungskräftigeren Klientel geraten ist.
Christina M. Heinen schildert plastisch das Verhalten ihrer ausgewählten «Akteure», zu denen manchmal wohl auch Freunde zählen: Kleine Clubs organisieren kleine Konzerte; Musiker finden billige Bleiben, um sich entweder ein kleines Studio einzurichten oder um das Studium an der Berliner UdK günstig über die Bühne zu bringen. Plastisch schildert die Autorin den Ablauf von Konzerten unter anderem eine Aufführung der Fluxus-Performance Candle Piece for Radios (1959) von George Brecht , plastisch gelingt ihr der Einblick in so manchen Club oder auch in verbreitete Abgrenzungsstrategien von perfektionierter Hochkultur in der Philharmonie nebenan. Trotz eifriger O-Ton-Fundierung und durchaus kenntnisreicher Darstellung von Organisationsstrukturen etwa des Kulturvereins «Gelegenheiten» bleiben aber Fragen: Wo liegen denn nun die Spezifika des Milieus Neukölln? Gibt es Unterschiede etwa zum Prenzlauer Berg der frühen 1990er Jahre? Haben sich die Strategien im Umgang mit Gentrifizierung verändert?
Eine Verortung Neuköllns im Vergleich zu anderen Stadtbezirken Berlins, Londons oder New Yorks hätte vielleicht Spezifischeres über den Ort Neukölln verraten können. So bietet das Buch lediglich ein Beispiel für ein Schicksal, das bekannt ist und nicht unbedingt 350 Seiten bedurfte. Der Umfang und das oft unnötige Bemühen kunstsoziologischer Theorien hat natürlich seinen Grund: Tief in Neukölln ist entstanden als Dissertation (an der Philosophischen Fakultät Köln). Ein musikalisches Tagebuch oder Ähnliches wäre am Ende schöner gewesen.
Torsten Möller