Morrow, Charlie

Toot!

Verlag/Label: XI Records 135
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2012/01 , Seite 87

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 3
Booklet: 5

Der Mann mit dem Hut: Charlie Morrow. In den 1960er Jahren musikalisch sozialisiert, hat der Ameri­kaner mit seinen wesensverwandten Kollegen Philip Corner, James Tenney und Malcolm Goldstein im Ensemble «Tone Roads» als Trompeter gespielt, hat in Kopenhagen sein Citywave mit mehr als 2000 Mitwirkenden realisiert und später für das WDR-Studio Akustische Kunst einige Arbeiten realisiert. Das sind nur Stationen, die aber in etwa das umreißen, was die drei CDs «Toot!» ausgiebiger dokumentieren: Charlie Morrow ist ein umtriebiger Experimentator, der sich wenig schert um Gattungsgrenzen, Personalstil oder etwaige «Kunsthöhen».
Alltagsverbunden ist sein Schaffen im besten Sinne. Vogelstimmen, die das Cornell Ornithological Laboratorium im New Yorker Central Park dokumentierte, hat er im Fahrwasser Olivier Messiaens zu einer wundervoll polyphonen Soundscape aus Taubengurren und Spatzenziepen collagiert. Mit dem menschlichen Atmen befasste er sich in «Breath Chant», einer knapp sechsminütigen, unmittelbar aufs Körperliche zielenden Studie. Auch verrückte, einmalige Ideen liefert Morrow zuhauf: «Very Slow Gabrieli» nennt sich sein erstes Werk, eine radikal verlangsamte Bläser-Bearbeitung von Giovanni Gabrielis 1597 entstandener «Sonata Pian’ e Forte». Primär instrumental ist auch eine Reihe mit dem Titel «Wave Music»: 1977 fand eine öffentliche Aufführung für vierzig Celli am Hudson River statt, in der die musikalische Imitation von Wellenbewegungen im Zentrum stand. In der New Yorker Cathedral of St. John the Devine folgte sieben Jahre später die Präsentation der «Wave Music VII» für dreißig (!) Harfen. Auch wenn die Klangmasse unter den Bedingungen enormer Nachhallzeiten kaum zu bändigen ist, ergibt sich in der Aufnahme doch eine gute An­näherung an ein Raumerlebnis, das überwältigend gewesen sein muss.
Die gänzliche Zwanglosigkeit ist es, die «Toot!» zu einem abwechslungsreichen Hörvergnügen macht. Notwendigerweise lässt der technische Standard aufgrund teils historischer Aufnahmen zu wünschen übrig. Ansonsten verdient «Toot!» Höchstnoten. Endlich ist der bisher vernachlässigte Charlie Mor­row diskografisch verfügbar – und das gleich in Form dreier CDs mit etwa dreistündiger Spielzeit und einem informativen englischen Booklet, das den 1942 Geborenen aus Sicht von vier Autoren polyphon beleuchtet. Nicht nur für den Freund einer experimentell-amerikanischen Schule ist «Toot!» ein Muss. Von Morrow kann man lernen – als Hörer und als Komponist!

Torsten Möller